Negative Fälle: Natürliche Windpockenqual

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Lucie, 37 Jahre, berichtet über ihre Tochter Carla, damals 7 Jahre:

Wir waren damals ganz überzeugt davon, dass wir richtig handelten: Carla sollte möglichst natürlich aufwachsen, war nicht geimpft (bis auf Tetanus, davor hatten wir irgendwie Angst), bekam keine Medikamente; wir waren schon seit der Schwangerschaft in homöopathischer Begleitung und Carla war überraschend wenig krank, sodass wir uns in diesem Weg auch irgendwie bestätigt fühlten. Als Carla in der zweiten Klasse war, hatten die Nachbarskinder Windpocken. Ich ließ sie dort extra spielen und drei Wochen später zeigten sich auch bei ihr die ersten Pünktchen. Ich war richtig stolz, dass wir uns eine der Kinderkrankheiten eingefangen hatten. Ich hatte so oft gehört, dass Kinder damit innere Entwicklungen machen sollten oder „Altlasten“ loswürden. Für mich klang das damals logisch oder zumindest passend.

Doch dann begann das Drama. Carla hatte nicht etwa ein paar nette Windpocken, sie war übersät davon. Sie hatte am ganzen Körper furchtbar juckende Stellen, ich rief die Homöopathin an, die sofort ihr Konstitutionsmittel (Pulsatilla in C200) empfahl, da Carla auch extrem weinerlich war und keinen Durst hatte. Doch der Juckreiz wurde unerträglich, Carla schrie und sprang wie wahnsinnig in der Wohnung herum, dazu kam Fieber. Sie hatte Windpocken in den Augen, in der Scheide, in den Ohren. Sie konnte sich dort nicht richtig kratzen und wenn sie es doch tat, dann fing es an zu bluten. Wärme verschlechterte alles, sie lief nur noch nackt herum. Ich telefonierte erneut mit der Homöopathin und sie empfahl Rhus toxicodendron einmal in C30 und dann in D6 immer, wenn es unerträglich wurde, empfahl aber auch, zum Kinderarzt zu gehen. Dorthin schaffte ich es aber nicht mehr, weil Carla sich nicht anziehen ließ, wie verrückt schrie und sich mittlerweile überall blutig kratzte. Ich zog ihr weiche Tücher über die Hände, aber auch das half nicht. Völlig verzweifelt rief ich eine Freundin an, die auch Kinderärztin ist und sie empfahl unmittelbar eine Zinklösung, die den Juckreiz stillen sollte. Doch ich hatte solche Angst vor „normalen Medikamenten“, fürchtetet auch, damit die Krankheit zu unterdrücken und gab es nicht.

Die Homöopathin wollte nun Sulphur C200 geben wegen des Blutigkratzens und auch noch einmal das Konstitutionsmittel. In der Nacht konnte Carla nicht schlafen, sie weinte und wimmerte in meinem Arm, war teilweise ganz weggetreten, dann kreischte sie wieder auf und kratzte sich wie wahnsinnig.

So hatte ich mir das nicht vorgestellt! Ich hatte gedacht, wir würden während der Erkrankung zusammengekuschelt Bücher lesen, das homöopathische Mittel geben und sie würde dadurch innerlich eine Entwicklung machen können. Aber zur Mitte der Nacht war es durch – wir konnten nicht mehr! Carla war wie von Sinnen! Das hatte für mich nichts mehr von gemeinsam durchlebter Krankheit, von Natürlichkeit oder Sanftheit. Das war der pure Wahnsinn. Ich rief verzweifelt und heulend beim Notarzt an, der sofort kam.

Carla bekam eine Art Beruhigungsmittel gespritzt, nachdem sie wie verrückt gebrüllt hatte (die Nachbarn erinnern sich heute auch noch an „unsere“ Windpockennacht!). Davon fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Der Notarzt redete mir sehr ins Gewissen, er blieb zwar freundlich, aber ich konnte spüren, für wie verantwortungslos, ja gemein, er mich hielt, das meinem Kind anzutun. Erst argumentierte ich noch mit Homöopathie und natürlichem Verlauf, aber er schaute mich an und mir liefen die Tränen nur so über das Gesicht. Zum ersten Mal kamen mir Zweifel an unserem Weg.

In der Nachtapotheke holte eine Freundin von mir (Danke an Birgit an dieser Stelle!) das Windpockenmittel (Zinkpulver mit Gerbstoffen) und einen Fiebersaft und ich begann, während Carla bei jedem Tupfen im Schlaf aufstöhnte, jede einzelne der Windpocken zu behandeln. Ich brauchte dafür über eine Stunde!

Am nächsten Tag ging ich zur Kinderärztin und heulte und heulte dort weiter. Und Carla auch. Die Wirkung des Mittels hielt nur kurz vor und sie war wieder gepeinigt von Juckreiz und Schmerzen. Die Kinderärztin war kurz davor, über eine Einweisung in die Kinderklink nachzudenken, auch, um Carla Aciclovir (ein Virostatikum , das die Windpocken-Viren direkt bekämpft) zu geben. Da ich so panische Angst davor hatte, ließ sie es zunächst auf einen Versuch mit Fiebersaft, einem Antihistaminikum und weiterem Tupfen mit dem Lokalmittel ankommen.

Wir hatten Glück. Die Pusteln entzündeten sich nicht großflächig, einige wurden eitrig (und haben scheußliche Narben hinterlassen), aber die meisten heilten in den nächsten Tagen ab.

Ich rief die Homöopathin an, die das Ganze aber abtat mit der Aussage, ich hätte da wohl die Nerven verloren. Sie würde da bei MEINER nächsten Behandlung drauf eingehen. Ich war fassungslos. Ich konnte dieser sonst so empathischen Frau nicht vermitteln, wie es uns gegangen war und dass ich ganz bestimmt nicht ein bisschen zimperlich gewesen war! Das hatte mich tief enttäuscht. Bedeutet „natürliche Behandlung“, ein Kind so zu quälen? Ich informierte mich danach über Impfungen, über Pseudomedizin und den aktuellen Stand zur Homöopathie und war entsetzt: Ich war einem ganz großen Luftschloss nachgejagt – und der Preis war mein Kind gewesen.

Carla ist heute 12 Jahre alt. Noch immer sagt sie, dass das die schlimmsten Tage ihres Lebens waren (und das würde ich auch so sagen). Ich habe gemerkt, dass Kinderkrankheiten nicht harmlos sind (auch wenn sie manchmal sicherlich harmloser ablaufen als bei uns). Ich habe Carla impfen lassen (nicht gegen Windpocken, dagegen ist sie ja nun immun, aber gegen alles andere). Sie hat die Impfungen gut vertragen und ist nicht häufiger krank als davor. Manchmal gebe ich bei unbestimmten Bauchschmerzen noch Globuli, oder wenn sie schlecht drauf ist. Aber irgendwie habe ich den Glauben daran total verloren.


Bild von Benjamin Sz-J. auf Pixabay 

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