“Altes Wissen ist vor allem eines: alt.”
Wenn es um alternative, komplementäre und ganzheitliche Heilmethoden oder gar um Kräuter geht, wird gerne mit “altem Wissen” argumentiert. Nur was ist das? Aus einem Konglomerat von Aufzeichnungen, Überlieferungen, alten Bräuchen und Ähnlichem mehr sucht sich jeder selbsternannte Wellnessexperte oder jede heil- und hellsichtige Kräuterhexe etwas irgendwie Passendes heraus, erklärt das Mittel oder die Prozedur für wirksam nach heutigen Kriterien, weil es sich um “altes Wissen” handelt.
Im “alten Wissen” stecken die seinerzeit überlieferten Erfahrungen, heute spricht man von Anekdoten. Sicher sind auch einzelne Erfahrungen und Anekdoten nach heutigem Wissen zutreffend, aber das kann nicht verallgemeinert werden. In der Mehrzahl handelt es sich um scheinbare Tatsachen. Wenn das Alter von Wissen ein positives Unterscheidungsmerkmal wäre, müsste man davon ausgehen, dass das Wissen der Alten zu einem sehr hohen Anteil richtig war. Können wir das in der Medizin sagen? Das wäre sehr vermessen. Wissen, das sich im Laufe der Zeit nicht bewährt hat, ist in Vergessenheit geraten, ist uns heute nicht mehr gegenwärtig und somit fehlt uns schlicht der Überblick. Somit ist der Rückschluss – alt = bewährt und richtig – nicht gerechtfertigt.
Dennoch wird täglich Reklame für meist veraltete Therapien und Mittel gemacht, deren Wirksamkeit in den Sternen zu suchen ist. Veraltetes lässt sich nur mit “altem Wissen” und dem zugrunde liegenden veralteten magischen Vorstellungen schlüssig erklären. Mit neuem Wissen sehen Erklärungen aber anders aus und von Wirksamkeit nach heutigen Maßstäben ist meistens nichts mehr nachzuweisen.
Das Spektrum des “alten Wissens” reicht von abergläubischen und magischen Vorstellungen und Praktiken einerseits bis hin zu einem Wissen, dass bestimmte pflanzliche Zubereitungen giftig bis unbekömmlich sind. Eine Unterscheidung zwischen Wirkungen, die auf magischen Vorstellungen beruhen und – um es modern auszudrücken – pharmakologischen Wirkungen im heutigen Sinn, gab es früher jedoch nicht. Magie und Naturwissenschaft waren nicht getrennt. Praktisch erfahrbare Wirkungen wurden mit magischen Vorstellungen erklärt.
Fraglos gibt es eine unübersehbare Fülle von schriftlichen Aufzeichnungen in Kräuterbüchern etc. aus allen Jahrtausenden, in denen über die Wirkung von bestimmten Kräutern und anderem mehr berichtet wird. Im Lichte moderner Pharmakologie und all den Faktoren, die heute bei einer Wirksamkeitsprüfung unbedingt zu berücksichtigen sind, sind alte überlieferte Wirksamkeitsberichte aber keine tauglichen Beweise, um eine Wirksamkeit im modernen Sinn zu bestätigen.
Die Auswahl der Heilpflanzen z. B. erfolgte nach uns heute völlig verwegenen Regeln des Symbolismus, der Astrologie usw. und auch aus religiösen Gesichtspunkten. So wurden den Pflanzen besondere Wirkungen zugeschreiben, die z. B. mit der Gottesmutter oder dem Jesuskinde irgendwie in Verbindung standen. Man denke nur daran, was nicht alles getan wurde, um an heilsame Reliquien zu gelangen.
Zum zahlreich überlieferten medizinischen “alten Wissen” ist zu sagen, dass nur in wenigen Fällen gesichert bekannt ist, was damals wirklich im Einzelnen geschah. Abgesehen von den Schwierigkeiten der wechselnden Bezeichnungen für z. B. Pflanzen und Krankheiten zu verschiedenen Zeiten, die oft keine exakten Zuordnungen mehr ermöglichen, wird völlig übersehen, dass der Placeboeffekt im weitesten Sinn immer schon wirksam war und keine Erfindung der modernen Medizin ist. Nur in wenigen Fällen lässt sich heute exakt sagen, welche Krankheit mit welchem Mittel konkret behandelt wurde.
Fakt ist aber auch, dass magische Vorstellungen und Handlungen zum unerlässlichen Repertoire jeder Heilbehandlung gehörten. Eine blutende Wunde, ein gebrochenes Bein, Kopfschmerzen, Fieber, Geburtsbeschwerden, zahlreiche Infektionen usw. wurden immer mehr oder weniger auch zeremoniell beschworen. Und die Menschen waren überzeugt, dass das Beschwören zur Heilung unerlässlich und wirksam ist. Auch das gehört zum “alten Wissen” und kann davon nicht getrennt werden.
Arzneimittel und Therapien mit einer gesicherten und damit einigermaßen vorhersehbaren Wirksamkeit im heutigen Sinn gibt es seit nicht viel mehr als 150 Jahren. Man konnte auch immer schon einfach so – mit und ohne Placeboeffekt – gesund werden. Voltaire bemerkte scharfzüngig, dass die ärztliche Kunst darin bestehe, den Patienten so lange bei guter Laune zu halten, bis die Natur ihn geheilt hat. Und Voltaire kritisierte die Ärzte und ihre Medizin seinerzeit nur zu Recht, denn auch die hochgelehrten Medici hatten keine besseren Erfolge zu verzeichnen als das einfache Volk mit seiner gebräuchlichen Volksmedizin. Das überlieferte “alte Wissen” war genauso erfolgreich bzw. erfolglos. Und selbstverständlich waren die Gaukler und Scharlatane auf den Marktplätzen nicht nur sehr sondern höchst erfolgreich und sie sind es heute noch.
Die Beschreibung der Vergiftung von Sokrates mit Schierling stimmt vollkommen mit unseren gesicherten Erkenntnissen über die Wirkung von Conium maculatum überein, aber derartige Highlights gibt es nicht viele. Dank unseres modernen Wissens in Pharmakologie und Pharmakognosie können wir die Vergiftung bestätigen. Warum aber Conium maculatum bzw. Coniin giftig ist, erklärt das “alte Wissen” nicht. Die Faktoren, die wir heute kennen bzw. erkannt haben, die einer Objektivierung der Wirksamkeit im Wege stehen bzw. diese verhindern, sind ja nicht neu, sondern waren immer schon gegeben.
Eine ganze Gesundheitsindustrie geht heute mit höchst selektiv ausgewähltem “alten Wissen” hausieren. Nostalgische und romantische Gefühle werden geschickt geschürt und bedient. Früher war ja alles natürlich und biologisch. Jedes Wissen kann und muss zu jeder Zeit überprüfbar sein. Nur so kann es zu einer Weiterentwicklung kommen. Das sogenannte Wissen aus der Erfahrung ist jedoch in höchstem Maße beschränkt. Ist es doch abhängig davon, in welchem Wissenstand und mit welcher Skepsis insgesamt diese Erfahrungen gewonnen wurden.
Selbstverständlich gibt es auch altes Wissen z. B. in der Geometrie den Satz des Thales, der besagt, dass alle Winkel am Halbkreisbogen rechte Winkel sind oder den pythagoreischen Lehrsatz, dass die Summe der Flächen der Quadrate über den beiden Katheten gleich der Quadratfläche der Hypotenuse ist. Nur in der Medizin ist derartiges Wissen, das bis heute gehalten hat, rar.
Fazit: Altes Wissen ist letztlich ein sich auf (vergangene, historische, überlieferte) “Autorität” berufendes Argument. Und das zählt wissenschaftlich – gar nichts. Und gerade bei der Homöopathie wissen wir 200 Jahre nach Hahnemann heute einfach vieles besser.
(Der Autor Dr. Edmund Berndt ist Apotheker im Ruhestand und Autor des Buchs „Der Pillendreh. Ein Apotheker packt aus“, Edition Vabene, 2009)
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