Miasmen in der Homöopathie – damals und heute

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Psora + Sykose + ererbte Sykose + Tuberkulinie + Lepröses Miasma+Syphilis + Akutes Miasma + Typhus + Ringwurm + Spiegelmiasma + Skrophulose + Egolyse + Miasmensplitting + Egotropie + primäre Psora + Überfunktion + Pseudopsora + Haltepunkt + Krätze + Carcinogenie :
Miasmatische Begrifflichkeiten von damals bis heute

 

In der klassischen Medizin, lange bevor man über Viren und andere Mikrooganismen als Krankheitserreger Bescheid wusste, verstand man unter Miasmen Ausdünstungen und üble Gerüche, die als Ursache für Krankheiten angesehen wurden. Diese Lehre gilt heute als überholt, sie hat aber durchaus zu richtigen Schlussfolgerungen geführt. Das Trockenlegen von Sümpfen, um den Gestank der Faulgase zu unterbinden, hat auch den Mücken als Krankheitserreger die Brutgebiete entzogen. Das Absondern der übel riechenden Pestkranken hat auch das Risiko der weiteren Ausbreitung gemindert.

Bei Hahnemann, dem Begründer der Homöopathie, hatte jedoch der Begriff des Miasmas eine ganz andere Bedeutung. Er verstand hierunter die tieferen Ursachen für chronische Krankheiten, die er mit seinem normalen Verfahren der Homöopathie nicht heilen konnte. Als Ursache für das Versagen nahm Hahnemann an, dass es tiefer sitzende Überbleibsel älterer nicht ausgeheilter ‚Urübel‘ gab, eben die Miasmen, die sich nicht durch die äußere Symptomatik erkennen ließen. Diese hielt er sogar für vererbbar.

„Obwohl (…) heutigen Homöopathen der derzeitige wissenschaftliche Stand der Medizin bekannt ist, sprechen (sie) heute noch von „Miasmen“, wenn (sie) bestimmte Phänomene meinen, die in der homöopathischen Praxis beobachtet werden. Homöopathen, die das Werkzeug „Miasmatik“ in ihrem Werkzeugkasten haben, sehen, dass viele Beschwerden auf eine oder mehrere andere verborgene Ursachen zurückgeführt werden müssen.“ (Quelle)

Was stimmt an dieser Aussage der Homöopathie?

Der Fehler begann als gute Idee bei Hahnemann

Beginnen wir bei Hahnemann. Seine letzte wichtige Veröffentlichung, „Die chronischen Krankheiten“, wirkt auf den ersten Blick wie das Spätwerk eines mittlerweile verbitterten Greises. Dieses Bild verflüchtigt sich aber, wenn man sich näher mit dem Text beschäftigt. Man kann darin ein Paradebeispiel dafür sehen, dass man trotz einigermaßen folgerichtiger Ideen und Überlegungen zu falschen Schlussfolgerungen gelangen kann. Für seine Zeit waren die Erkenntnisse Hahnemanns beachtlich und innovativ! Auch stand er mit seiner Sichtweise der chronischen Krankheiten der modernen Medizin und Naturwissenschaft wesentlich näher, als seine heutigen Nachfolger, welche die Lehre von den chronischen Krankheiten „weiterentwickelt“ haben und immer noch nutzen (trotz besseren Wissens).

Hahnemann war bekannt, dass viele Krankheiten „durch etwas“ übertragen werden, also z.B. durch den Kontakt oder die Nähe zu einem Erkrankten oder einer anderen Infektionsquelle, einem tollwütigen Hund zum Beispiel. Er konnte also durchaus feststellen, dass eine – mit seinen Mitteln – nicht mehr feststellbare winzige Menge eines unbekannten Giftes zu erheblichen Beeinträchtigungen und Krankheitserscheinungen führen kann. Warum sollen dann nicht winzigste Mengen eines Heilmittels ebenfalls umfassende Wirkung zeigen können? Die Genese einer Infektionskrankheit, die Vermehrung der Erreger im Körper des Betroffenen, blieben ihm ja mangels Mikroskop verborgen (wiewohl es schon vor Hahnemann Spekulationen auf Krankheitserreger kleinsten Ausmaßes gab, so vermutete Athanasius Kircher im 17. Jahrhundert „kleine Wesen“ als Auslöser der Pest und erste Ergebnisse der Mikroskopie gab es auch schon vor Hahnemann – es fehlten die richtigen Schlussfolgerungen).  Hahnemanns Forderung, seine Medikamente in möglichst kleinen Gaben zu verabreichen, ist unter diesem speziellen Sichtwinkel nicht so abstrus, wie es uns heute zunächst erscheint.

Hahnemann hatte durchaus richtig beobachtet, dass es Beschwerden gab, die sich oberflächlich durch Symptome auf der Hautoberfläche äußerten, aber nicht durch ein Behandeln dieser Symptome heilbar waren. Das ist das Bild, das wir auch heute von einigen Infektionskrankheiten haben, wie z. B. Masern, Windpocken etc.

Hahnemann tat das, was ein Wissenschaftler zu seiner Zeit machen musste: Er beobachtete „die Natur“ und leitete daraus seine Erkenntnisse ab. Er beobachtete also tatsächlich Phänomene – und erklärte sie im Rahmen seiner Möglichkeiten. So weit, so gut. Doch er machte einen Fehler.

Die Grenzen der Homöopathie bei chronischen Krankheiten: fehlgedeutet

Zunächst ist zu bedenken, dass Hahnemann unter einer „chronischen Krankheit“ sicher nicht das Gleiche verstand wie wir heute, sondern es sich einfach um Symptome handelte, die er mit seiner normalen Vorgehensweise nicht erfolgreich behandeln konnte. Chronische Krankheiten waren also alle diejenigen, die sich der Homöopathie widersetzten.

Er sah an diesem Punkt aber nicht etwa, dass seine Homöopathie wohl nicht wirklich heilen konnte, sondern entspann eine Theorie: wonach etwas die Wirkung verhindern würde!

Im Kernpunkt führt er die chronischen Erkrankungen des Menschen, und zwar alle, ohne Ausnahme, auf drei Urübel zurück: Die Syphilis (Geschlechtskrankheit), die Sykosis („Feigwarze“, ebenfalls sexuell übertragbare Krankheit) und die Psora („Krätze“).

Aus seinen Beobachtungen leitete Hahnemann das Vorgehen bei der Behandlung dahingehend ab, dass bei der „miasmatischen Behandlung“ zunächst die Natur der inneren verborgenen Krankheit in Erfahrung gebracht werden müsse, also im Anamnesegespräch frühere Infektionen herausgearbeitet werden müssen. Die homöopathische Behandlung muss sich zunächst auf diese innere „verborgene“ Krankheit beschränken. Das vorzeitige Beseitigen der äußeren Hautbeschwerden nähme der inneren Krankheit nur das Ventil, woraufhin sich diese noch viel grässlicherer Ausdrucksmittel bedienen würde. Wenn man unter Hahnemanns Miasma eine unbehandelte Infektionskrankheit versteht, dann klingt die obige Behandlungsvorschrift auch aus heutiger Sicht gar nicht so unsinnig. Hätte er anstelle seiner Kügelchen Antibiotika verwendet – die gab es aber erst ein paar Dutzend Jahre später – wäre die Vorgehensweise durchaus erfolgversprechend.
Hahnemann hatte aber nun mal nur seine Homöopathie eingesetzt, er hielt an ihr unbedingt fest – nicht zuletzt, weil für ihn das Ähnlichkeitsprinzip unantastbar war.

Unwahrscheinlich, dass er damit tatsächlich eine Syphilis-Infektion erfolgreich behandelt haben könnte. Das hatte ihn aber nicht von seinen Vorstellungen abgebracht, denn er nahm gleichzeitig an, dass eine Krankheit um so schwieriger zu behandeln sei, je länger sie bereits andauerte. Und eine zwanzig oder dreißig Jahre alte Infektion zu beseitigen, muss daher fast unmöglich gewesen sein, insbesondere, wenn der Patient durch Fehlbehandlungen seitens der Allopathen „verpfuscht“ worden war. Wenn also eine Heilung einer miasmatischen Erkrankung nicht gelang, dann lag das an der Hartnäckigkeit der Krankheit, nicht an den Mängeln der Therapie. So weit verfügte Hahnemann aus seiner Sicht über ein durchaus stimmiges Weltbild, das in manchen Aspekten erstaunlich gut mit dem heutigen Kenntnisstand über Infektionen übereinstimmt.

Hahnemann hatte also aus seinen Beobachtungen durchaus eine folgerichtige Induktion aufgebaut – und sich dennoch geirrt. Es ist einfach nicht zutreffend, dass alle Beschwerden, die sich nicht auf Anhieb mit der Homöopathie behandeln lassen, auf drei Haut- und Geschlechtskrankheiten zurückzuführen sind. Auch wenn man unterstellt, dass die Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern mit ähnlicher Symptomatik nicht unbedingt klar und deutlich war.

Wie hätte man diesen Irrtum feststellen können?

In der Wissenschaft ist die Induktion, also die Schlussfolgerung von Beobachtungen auf vermutete Gesetzmäßigkeiten, ein wichtiger Schritt. Aber wie man sieht, man kann da auch in die Irre gehen, wenn man die Zusammenhänge falsch einschätzt. Daher ist es wichtig – und heute üblich -, die abgeleiteten Gesetzmäßigkeiten in einem zweiten Schritt (oder in noch weiteren) zu überprüfen und das Ergebnis später zu veröffentlichen und so der wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Diskussion zu stellen.

Die Aussage, dass die chronischen Beschwerden von den drei betrachteten Krankheiten verursacht werden, kann auf zwei Weisen falsifiziert werden:

    • Treten chronische Beschwerden auch bei Menschen auf, die keine entsprechende Krankengeschichte aufweisen?
      Damit hätte man herausfinden können, dass es auch chronische Krankheiten gibt, die eine andere Ursache haben und hätte daraufhin die Ursachenforschung erweitern können.
    • Treten in allen Fällen, in denen eine der als Ursache angenommenen Infektionen nur äußerlich behandelt wurde, die chronischen Beschwerden auf?
      Dies hätte die Behandlungsstrategie verbessern können. Beispielsweise hätte sich gezeigt, dass die Krätze tatsächlich nur eine durch Milben verursachte, auf die Haut beschränkte, Erscheinung ist.

Lassen wir dabei einmal außer Acht, dass ein Studiendesign, das dieses untersuchen könnte und dabei gleichzeitig mit ethischen Gesichtspunkten vereinbar wäre, nur schwierig zu realisieren sein dürfte. Hier geht es lediglich darum, aufzuzeigen, wie die Wissenschaft sicherstellt, dass Fehlschlüsse, wie sie hier Hahnemann unterlaufen sind, ausgeschlossen werden. Wie man sieht, versucht man die gefundene Regel zu widerlegen, indem man untersucht, ob das Gegenteil zutreffend sein könnte. Widersprüche führen zu einer Überprüfung der Regel. Hier hätte sich ein weites Feld aufgetan, aber dieses Vorgehen war nicht üblich.

Die miasmatische Behandlung heute

Es scheint gerechtfertigt, die Miasmen Hahnemanns als eine Bezeichnung für das im Inneren des Körpers ablaufende Geschehen bei einer unbehandelten und fortbestehenden Infektion zu verstehen. Dann wäre diese Vokabel mit den zunehmenden Kenntnissen über virale und bakterielle Infektionskrankheiten in der Vergangenheit überflüssig geworden. Auch sind heute viele chronische Krankheiten zumindest so weit bekannt, dass sie ihre Ursache nicht in früheren Infektionen haben (Rheuma, Diabetes, COPD etc.). Dennoch lebt das Miasma und seine Behandlung in der homöopathischen Literatur fort und wird quasi, wie im Eingangszitat erwähnt, als Parallelwissen zum heutigen Kenntnisstand gehandelt. Auch bei anderen pseudomedizinischen Ansätzen ist es zumindest nicht unüblich, auf „Infektionen“ oder „chronische Entzündungen“ als Erklärungshypothese für vieles, wenn nicht alles zurückzugreifen. Hier leben Aspekte von Hahnemanns Miasmenlehre auch außerhalb der Homöopathie fort.

Es gibt jedoch bis heute keine einheitliche Definition von Miasmen oder eine allgemein gültige/akzeptierte Einteilung. Miasmen gibt es nach Hahnemann, Gienow, Sankaran, Scholten, Masi-Elizalde, Sanchez-Ortega, Burnett, Allen, Sonnenschmidt, Laborde, Vijayakar, Banergea, Banerjee und vielen anderen mehr. Dabei werden zwischen 3 und 12 Miasmen unterschieden. Gewisse Miasmen selbst scheinen vollständig in das Reich der Esoterik abgedriftet zu sein. Bei den Homöopathen sind also vielerlei unterschiedliche Verfahren als „miasmatische Behandlung“ bekannt. Zu stören scheint das nicht. Alle beobachten – erwartbar – natürlich „Phänomene“ und alle berichten – ebenso erwartbar – von Heilerfolgen – aber nicht von eklatanten Widersprüchen.

Damals interessant – heute falsch und dogmatisch

Man kann Hahnemann zugestehen, in der Natur zumindest einiger chronischer Beschwerden gar nicht so falsch gelegen zu haben und nur durch die beschränkten Möglichkeiten seiner Zeit zwangsläufig in seinen Irrtümern gefangen geblieben zu sein. Also in seinem Erkenntnisprozess durchaus einen richtigen Weg eingeschlagen zu haben, dabei allerdings in einem frühen Stadium verblieben zu sein.

Für seine Nachfolger, insbesondere die modernen, die Miasmentheorie bearbeitenden Homöopathen wie Masi-Elizalde (1933-2003), Sankaran (* 1960) oder Gienow (*1960), gilt diese wohlwollende Betrachtung ausdrücklich nicht. Sie könnten besser wissen, dass 1. die Miasmentheorie widerlegt und durch besseres Wissen ersetzt ist und dass wir 2. alle möglichen Phänomene nach Art einer self-fulfilling-prophecy irgendwie erklärbar machen können. Nur, im Gegensatz zu Hahnemann, haben wir heute Möglichkeiten mit Hilfe der Wissenschaft, dabei Fehler und Fehlwahrnehmungen aufzuspüren und zu korrigieren. Diesem Vorgehen verweigern sich Homöopathen jedoch konsequent und bleiben lieber in ihrer Luftblase aus Ideen von vor 200 Jahren gefangen. Der Wissenschaft allerdings werfen sie vor, sie möge doch auch „endlich mal über ihren Tellerrand hinaus schauen“.


(Autoren: Dr. Norbert Aust, Dr. med. Natalie Grams)

Mehr zum Thema Miasmen und zur Sicht der homöopathischen Szene auf die Miasmenlehre auch hier.

Foto: Wikipedia Commons The Yorck Project/Directmedia Publishing GmbH (Gemälde: Pietro Longhi)

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