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„Wer heilt, hat recht.“ Dieser schlichte und weithin als richtig akzeptierte Satz steckt, wenn man ihn genauer betrachtet, voller Fallstricke.
Tatsächlich glauben Arzt und Patient nur, eine „Heilung“ oder zumindest eine „Besserung“ zu sehen. Das kann stimmen, aber auch ebenso falsch sein. Gerade chronische Krankheiten mit ihrem Auf und Ab gaukeln unter Umständen nur eine Verbesserung vor. Auch können sich Arzt und Patient täuschen. Schließlich stehen beide unter einem gewissen Erfolgsdruck und sehen vielleicht Verbesserungen, wo gar keine sind. Vielleicht traut sich der Patient auch nicht, sich und dem Arzt einzugestehen, dass es ihm gar nicht besser geht.
Wenn tatsächlich eine Verbesserung eingetreten ist, kann es auch dafür prinzipiell zwei Gründe geben: Die Verbesserung geht ursächlich auf die Behandlung zurück, oder sie erfolgte bloß zeitnah, aber unabhängig vom Tun des Arztes, weil der Patient auch ganz von alleine wieder gesund geworden ist. Man sollte meinen, das zu unterscheiden, könne nicht so schwer sein. Dass dies jedoch eine der größten Herausforderungen der Medizin ist, lehrt allein schon ein Blick in die Geschichte, die reich ist an Torturen, die irrtümlich für Kuren gehalten wurden.
Im besten Glauben
Warum es uns so schwerfällt, ursächlich zusammenhängende von zeitnahen Ereignissen zu unterscheiden, lässt sich leicht beantworten: weil der menschliche Geist darauf getrimmt ist, Ursachen zu erkennen. Er ist wie versessen darauf, „eins und eins zusammenzuzählen“, „den gesunden Menschenverstand einzuschalten“ und so weiter. Der Kombinationsakrobat Mensch ist, wie manche sagen, „credoman“. Er sucht für alles eine Erklärung und je einfacher sie ist, desto besser. Diese Eigenschaft war ganz sicher einer seiner Trümpfe im Spiel der Evolution. Durch sie konnte er das Feuer zähmen, Tiere fangen und Werkzeuge erfinden und sie hilft ihm auch dabei, seinen Alltag im 21. Jahrhundert zu meistern. Doch die Credomanie hat auch ihre Schattenseiten: Sie steht dem Menschen immer dann im Weg, wenn die Dinge nicht so offensichtlich sind, oder – noch schlimmer – wenn sie nur offensichtlich zu sein scheinen. Sehr oft, wenn zwei Ereignisse gleichzeitig oder kurz nacheinander auftreten, tappt er blindlings in die Erklärungsfalle. Wie aus einem inneren Zwang heraus glaubt der Mensch, dass zeitlich nahe Ereignisse auch ursächlich zusammenhängen. Er setzt, wie es mit Fachtermini heißt, Koinzidenz mit Kausalität gleich.
Inzwischen weiß man, dass auf die persönliche Erfahrung, den Augenschein und die Plausibilität kein Verlass ist. In seiner Credomanie biegt sich der Mensch die Wirklichkeit zurecht, man könnte sagen, er macht sie zu seiner Wirklichkeit.
Die Regeln der evidenzbasierten Medizin
Solche Selbsttäuschungen ausschließen können nur wissenschaftliche Studien. Nur sie können klären, ob zwei Ereignisse – etwa das Schlucken einer Pille und die Heilung – wirklich kausal zusammenhängen. Dass also das erste Ereignis, das Pillenschlucken, die Ursache für das zweite Ereignis, die Heilung, ist. Doch Vorsicht: Studie ist nicht gleich Studie. Damit eine Untersuchung wirklich aussagekräftig ist, muss sie bestimmten Regeln folgen. Diese Regeln sind so etwas wie Präzisionswerkzeuge, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten unter dem Namen „Evidenzbasierte Medizin“ (EbM) die Heilkunst revolutioniert haben:
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- Ein Verfahren, gemeint ist hier eine Methode oder ein Medikament, muss in Studien mit ausreichend vielen Patienten untersucht werden.
- In diesen Studien muss das Verfahren mit etwas anderem verglichen werden, im Idealfall mit einem wirkungslosen Kontrollverfahren.
- Probanden dürfen dabei nicht selbst entscheiden, ob sie der Behandlungs- oder der Kontrollgruppe angehören wollen, sondern sie müssen per Zufall zugeteilt werden, damit die Gruppen wirklich gleich sind.
- Weder Ärzte noch Patienten dürfen erkennen können, wer das eigentliche Verfahren und wer das Kontrollverfahren bekommt.
- Nach einem angemessenen Zeitraum sollen vorher festgelegte Parameter ermittelt werden, die auf eine Wirkung der Behandlung schließen lassen.
Diese Regeln sind heute von allen medizinischen Fachgesellschaften als der sogenannte Goldstandard akzeptiert. Die Studien heißen RCTs, nach „randomized controlled trial“, oder auf Deutsch „kontrollierte Studien mit zufällig zugewiesenen Probanden“.
Über die Grenzen klinischer Studien
Soweit die Theorie. In der Praxis treten vielfache Schwierigkeiten auf: Nicht immer sind RCTs möglich und bei weitem nicht alle RCTs sind wirklich zuverlässig, obwohl sie formal den Kriterien genügen. Auch wenn der Begriff „Studie“, gerade in der Öffentlichkeit, häufig mit „Beweis“ gleichgesetzt wird, muss man zwei Aspekte genauer betrachten, um beurteilen zu können, wie aussagekräftig eine Studie wirklich ist: Zum einen, welche formalen Kriterien die Studie erfüllt und zum anderen, wie gut die Studie dann ausgeführt ist. Zum Vergleich: Nicht jedes Hotel ist eine Luxusherberge. Es muss dafür zum einen die formalen Kriterien erfüllen, um sich die nötigen Sterne zu verdienen und es muss zum anderen so gut geführt sein, wie man es von einem Luxushotel erwarten darf. Die Verfechter der EbM wissen um diese Schwierigkeiten und so erheben sie nicht den Anspruch, die Wahrheit zu verkünden, jedoch das beste Werkzeug zu besitzen, um der Wahrheit möglichst nahezukommen.
Es gibt noch eine weitere Schwierigkeit: Nach den Regeln der evidenzbasierten Medizin ist es wesentlich schwieriger und aufwändiger, manche sagen auch unmöglich, in einer Studie die Unwirksamkeit eines Verfahrens oder einer Arznei zu belegen, als deren Wirksamkeit nicht zu belegen. So, wie es schwierig ist, zu zeigen, dass eine bestimmte Schmetterlingsart ausgestorben ist, aber einfach zu beweisen, dass sie nicht ausgestorben ist, weil man dafür nur ein einziges Exemplar finden muss.
Was heißt denn schon bewiesen?
Für die Medizin ist der Unterschied gewaltig: Wenn die „Unwirksamkeit überzeugend belegt“ ist, darf man sagen: Es ist bewiesen, dass das Verfahren nicht wirkt. Es erübrigen sich alle weiteren Versuche und der Fall ist abgeschlossen. Wenn jedoch die „Wirksamkeit nicht belegt“ ist, darf man nur sagen: Es ist nicht bewiesen, dass das Verfahren wirkt. Weitere Versuche sind notwendig und der Fall ist nach wie vor offen. Aus einem „Wirksamkeit nicht belegt“ wird dann in weiteren Publikationen leicht ein „Wirksamkeit noch nicht eindeutig belegt“, sodass am Ende beim Laien – trotz negativer Studienergebnisse – die Botschaft ankommt: Der endgültige Beweis für die Wirksamkeit ist eigentlich nur noch Formsache – so läuft es derzeit bei der Homöopathie.
Tücken der Statistik
Es gibt noch ein Problem: Rein statistisch ist irgendwann ein positives Ergebnis zu erwarten. Unterschiede im Ergebnis zwischen der Behandlungs- und der Kontrollgruppe werden als „statistisch signifikant“ definiert, wenn die statistische Auswertung eine mehr als 95%ige Wahrscheinlichkeit ergibt, dass der Unterschied nicht zufällig, sondern eine Folge der Behandlung ist. So werden 5 von 100 Studien „statistisch signifikant positive“ Ergebnisse bringen, obwohl diese doch zufällig sind.
Diese Probleme zeigen, dass auch die besten medizinischen Studien eine gewisse Fehleranfälligkeit besitzen. Dennoch lässt die EbM keine anderen Erkenntnismöglichkeiten gelten. Selbst Naturgesetze und andere sichere Erkenntnisse werden ausgeblendet. Es gehört zu den ehernen Prinzipien der EbM, nicht danach zu fragen, wie etwas wirkt, sondern nur, ob es wirkt. Die Folge: Es werden selbst Verfahren wie das Verabreichen homöopathischer Arzneimittel, die aufgrund sicherer physikalischer, chemischer, pharmakologischer und physiologischer Erkenntnisse nicht spezifisch wirken können, in klinischen Studien untersucht. Die oben erläuterte Fehleranfälligkeit klinischer Studien macht deutlich, warum es dabei zu scheinbar positiven Ergebnissen kommt, ja sogar kommen muss. Was zu großer Verwirrung führt – aber nicht zu einem Ende der Diskussion. Denn eines konnte die Homöopathie bisher nicht sauber belegen – dass sie eine Placebo-Überlegenheit hat.
(Autor: Dr. Christian Weymayr)
Größtenteils übernommen aus dem Kapitel „Wissenschaft“ in „Die Homöopathie-Lüge“ (Weymayr, Heißmann; Piper, 2012).
Mehr zu wissenschaftlichen Studien und ihrer Einordnung:
FAQ 11 – Aber es gibt doch Studien, die zeigen, dass Homöopathie wirkt!
Kritik an der Homöoapathiekritik II – „Positive Studien fehlen“
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