Negative Fälle: Ganzheitlich ohne Diagnose

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Ein Schriftzug "Holistic" mit einem drüberliegenden großen Fragezeichen (symbolisiert die Fragwürdigkeit des Buzzwords "ganzheitlich".
Ganzheitlich – das #1-Buzzword der Pseudomedizin

Bettina, 50 Jahre, berichtet:

Seit Jahren hatte ich immer wieder Husten. Trockenen Reizhusten, sowohl im Sommer, als auch im Winter. Manchmal kam das Gefühl hinzu, dass mir Schleim hinten im Rachen von der Nase aus hinunter rinnt. Jahrelang habe ich den Husten als gegeben hingenommen, er kommt, er geht. Bin halt öfter erkältet als andere …

Dann aber störte er wirklich: Ich nahm an abendlichen Sitzungen teil, die ich auch leiten musste und bei denen ich viel redete. Hier wurde ich oft durch Hustenreiz unterbrochen, das war unangenehm. Stecke ich die anderen an?

Ein Tipp von einer Bekannten: „Geh mal zu dieser Heilpraktikerin, sie hat mir und vielen anderen schon sehr geholfen“.

Besuch bei Heilpraktikerin (keine Ärztin). Es wunderte mich kein bisschen, dass sie mich nicht „untersuchte“ – kein Stethoskop oder Ähnliches. Ich wusste ja: Es kommt darauf an, wie genau ich meine Beschwerden zu schildern vermag – nur so kann sie das richtige Medikament heraussuchen! In der ersten Sitzung beschrieb ich also genau meine Symptome. Wann kommt der Husten, wie fühle ich mich dabei? Wann verstärkt er sich, wann wird er besser? Auch Fragen zu meiner allgemeinen Lebenssituation, Arbeit, Familie. Am Ende der fast zwei Stunden rundete eine Art „Wünschelrute“ oder Pendel die Diagnose ab, auch der Blick auf mich durch eine Art Glas oder Plastikstück in Regenbogenfarben. Dann einige Kügelchen, sofort nehmen. Neuer Termin.

Dieses Prozedere wiederholte sich mehrmals, wobei die nachfolgenden Sitzungen kürzer, aber immer noch gut eine Dreiviertelstunde oder länger dauerten. Wieder Fragen zum Husten. Meine Akte füllte sich, jedes Mal wurde mehr als eine DIN A 4 Seite meiner Symptom- und Befindlichkeitsschilderungen händisch mitgeschrieben. Husten hatte sich verschlechtert? Dann war es das richtige Mittel! Nochmal, vielleicht in einer anderen Potenz.

So ging es über Monate immer weiter. Husten kam und ging, ich bemühte mich, der Heilpraktikerin immer genau die Symptome zu schildern. Das Problem musste ja bei mir liegen, irgendetwas machte ich falsch! Keine  homöopathieverträgliche Zahnpasta benutzt, sodass die Kügelchen nicht wirkten? Irgendwann im darauffolgenden Jahr wurde mir bewusst, dass keines der Mittel, die ich erhielt, irgendeine Auswirkung auf den Hustenreiz hatte.

Bislang hatte ich meine Hausärztin mit diesem Reizhusten nicht belästigen wollen, schließlich ging es hier um eine harmlose Sache (dachte ich). Eines Tages, bei anderer Gelegenheit, erzählte ich dann doch meiner Hausärztin von meinem Reizhusten-Problem. Sie tat das, was man als Patient eigentlich erwartet: hörte mich gründlich ab, nahm eine Blutprobe. Befragte mich ausführlich (jawohl!). Überwies mich zum HNO, um eine Nebenhöhlen-Entzündung auszuschließen, anschließend sollte es zur Magen-Darm-Spieglung gehen, sie hatte einen Verdacht. HNO gab Entwarnung, also zur Magenspiegelung.

ÖDG-Befund: „Im distalen Ösophagus kurzstreckige, fibrinbelegte Ulzera bei ca. 2 cm großer axialer Hiatushernie.“

Diagnose: „Refluxösophagitis Grad II“

Die Diagnose bedeutet, dass Magensäure aus dem Magen zurück in die Speiseröhre geflossen war, wo sie nicht hingehört und zu Verätzungen der Speiseröhren-Schleimhaut geführt hatte.
Es folgte ein gutes Gespräch mit dem Arzt, der die Magenspiegelung durchgeführt hatte. Ein Behandlungsplan wurde aufgestellt und Verhaltensregeln besprochen. Keine große Sache.

Die Magenspiegelung war 2006 – seitdem bin ich meinen Reizhusten, der mich über 20 Jahre lang begleitet hatte, los!

In den letzten zehn Jahren hatte ich einige wenige normale Erkältungen, die ich an einer Hand abzählen kann. Der Hustenreiz erwischt mich, wenn ich doch mal meinem Magen zu viel zugemutet hatte. Aber dann kenne ich die Ursache, weiß, was zu tun ist und der Husten hört sofort auf – weil er eben keiner Erkältung geschuldet ist.

Seitdem betrachte ich die Berufsbezeichnung „Heilpraktiker“ mit anderen Augen, ebenso die Diagnosefähigkeit der Homöopathie. Eine „Diagnose“ im medizinischen Sinn fand nämlich gar nicht statt. Ganzheitlich? Von wegen! Die Homöopathin behandelte meine – von mir selbst geschilderten – Symptome, ohne die Krankheitsursachen wirklich abzuklären. Dazu war die Heilpraktikerin, die mir sicher wirklich helfen wollte und von ihrer Methode von Herzen überzeugt war, gar nicht in der Lage. Sie kam während der ganzen Zeit auch nicht auf den Gedanken, mich zum Allgemeinmediziner, HNO oder sonst jemandem zu schicken. Das erschreckt mich am meisten. Ich hoffe, dass sie zumindest Patienten mit schwerwiegenderen Erkrankungen den Rat gibt, einen Arzt aufzusuchen.


Bild von lifestylehack auf Pixabay

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