Prof. Lars Bräuer hat zusammen mit dem Arzt und Medizinpublizisten Falk Stirkat das Buch „Der belogene Patient – Warum Impfkritiker, Wunderheiler und andere Scharlatane gefährlicher sind als jedes Virus“ veröffentlicht. Breit gefächert behandeln die Autoren darin die Wirrnis pseudomedizinischer, traditionsbezogener und auf “persönlicher Erfahrung” basierender Medizinirrtümer und -mythen. Natürlich findet auch die Homöopathie als “Eckstein” des pseudomedizischen Gebäudes im Buch ihren gebührenden Platz. Wir hatten dankenswerterweise Gelegenheit zu einem Austausch mit Prof. Bräuer.
INH: Zunächst einmal Glückwünsche zur Veröffentlichung, Herr Prof. Bräuer, und zu der offensichtlich breiten Rezeption. Uns als INH freut natürlich ganz besonders, dass sich hier die forschende und praktizierende Medizin des Themas der pseudomedizinischen Desinformation dezidiert annimmt. Wir haben ja schon oft beklagt, dass die Dimension dieses Themas von professioneller Seite nicht ernst (genug) genommen wird und es an Positionierungen von dieser Seite fehlt. Was glauben Sie, mögen die Gründe dafür gewesen sein, dass den pseudomedizinischen Versprechungen so lange mit Laissez-faire begegnet wurde und wird – in Wissenschaft und Politik? Hat man die gravierenden Auswirkungen auf die Gesundheitskompetenz der Menschen wirklich nicht erkannt?
Prof. Bräuer: Haben Sie ganz herzlichen Dank für die Glückwünsche und die Möglichkeit des Austausches mit Ihnen.
Dies ist eine interessante aber auch überaus komplexe Frage. Die Antwortmöglichkeiten hierauf sind sicher vielfältig und zum Teil abhängig von der Sichtweise des Betrachters. Ich denke, der Großteil der Wissenschaftler misst dem Thema „Pseudowissenschaft“ und im speziellen „Pseudomedizin“ nur einen äußerst geringen (eigentlich gar keinen) Stellenwert bei. Ernsthafte Forschung ist enorm aufwendig, kostet viel Geld und Nerven und es ist schwer, auf diesem kompetitiven Feld erfolgreich zu sein. Warum sollte man also Energie in Zauberei und Hokuspokus investieren? Pseudowissenschaft findet daher sozusagen unterhalb des Radars der ‚echten‘ Wissenschaft statt. Ich denke, vielen meiner Kollegen ist überhaupt nicht bewusst, dass hier ein großes und auch ernstzunehmendes Problem besteht, das auch Menschenleben kostet.
Ein weiterer Aspekt ist sicher auch die Trägheit des Systems. Wenn ich bedenke, welche bürokratischen und emotionalen Hürden überwunden werden müssen, um nur kleine Veränderungen am Curriculum der Studenten vorzunehmen oder gar die Approbationsordnung für Ärzte oder Zahnärzte anzupassen, dann verwundert es nicht, dass einem hier sehr schnell die Luft ausgeht. Abgesehen von einigen wenigen Fakultäten ist die Homöopathie noch immer Bestandteil des Medizinstudiums – und nein, ich spreche hier nicht vom Fach Medizingeschichte (wo sie sicher hingehören dürfte) – das finde ich erschreckend. Glücklicherweise hat zumindest die Marburger Erklärung dafür gesorgt, dass dies nicht mehr durch das IMPP (Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen) abgeprüft wird. Dennoch wird hier suggeriert, dass dieser Zweig der Pseudowissenschaft einen Stellenwert hat, was er aber nicht haben dürfte. Jeder aufmerksame Student müsste doch eigentlich nach dem Grundstudium (wo Physik, Chemie und Mathematik gelehrt werden) aufschreien, wenn ein Unidozent mit homöopathischem Unsinn plötzlich gegen sämtliche Naturgesetze verstößt. Naja, und finanzielle Interessen sowie Lobbyismus darf man in der Diskussion hier natürlich auch nicht vernachlässigen. Kurzum, ich denke, man ist sich der Auswirkungen auf die Gesundheitskompetenz der Menschen möglicherweise schon bewusst, hat aber aufgrund der oben genannten Punkte keinen Anreiz und auch keine Energie etwas zu verändern.
INH: Gab es einen konkreten Anstoß für Sie, das Thema der Irreführung durch Pseudomedizin so breit und publizistisch wirksam aufzugreifen? Dr. Natalie Grams hat ja durch ihre Bücher die längst verschüttet geglaubte öffentliche Debatte über die Homöopathie anhaltend wiederbelebt – erwarten Sie, dass es nun auf noch breiterer Basis zu einem öffentlichen Diskurs über die ganze Bandbreite pseudomedizinischen Unsinns kommen kann?
Prof. Bräuer: Ja, es gab natürlich einen Anstoß. Abgesehen davon, dass ich vielleicht auch gern etwas provoziere, gibt es in meinem Freundes- und Bekanntenkreis eine ganze Menge Menschen, denen überhaupt nicht bewusst ist, dass es so etwas wie Pseudomedizin überhaupt gibt – hat man doch ein großes Vertrauen zu seinem behandelnden Arzt. Hier leiste ich schon seit vielen Jahren Aufklärungsarbeit, was mitunter sehr müßig ist, da viele Fehlinformationen tief in den Meinungen der Menschen verwurzelt sind. Es fällt nur mir dann immer besonders schwer, klarzumachen, dass Fakten nunmal überhaupt nichts mit Meinungen zu tun haben.
Bleiben wir doch gern beim Beispiel Homöopathie, welche viele Menschen bedauerlicherweise noch immer nicht von Naturheilkunde oder Phytotherapie differenzieren können. Meiner Erfahrung nach kann man die Menschen hier in drei Kohorten unterteilen: die Einen, die wissen, dass Homöopathie einfach Quatsch ist; dann die, die es nicht wissen, aber unsicher sind, wem oder was sie ‚glauben‘ sollen (glauben ist so ein unfassbar unwissenschaftliches Wort und sollte in dem Kontext eigentlich überhaupt nicht verwendet werden), und natürlich die, die mitunter sogar militant ihre fundamentalistischen Ansichten vertreten und sogar bereit sind, langjährige Freundschaften für ihre Sichtweise in Frage zu stellen. Letztere, die aus meiner Erfahrung auch häufig Impfgegner oder Anhänger von Verschwörungstheorien sind, werden wir mit unserem Buch sicher nicht überzeugen können, sie werden und würden es ohnehin niemals lesen. Aber diejenigen, die tatsächlich an Aufklärung und Fakten interessiert sind, die wird man schon erreichen können.
Ich denke, Natalie Grams hat sehr viel dazu beigetragen, dass das Thema wieder publik und quasi en vogue ist – insbesondere spielt hier sicher ihre eigene Vorgeschichte und ihre Präsenz in den sozialen Medien eine große Rolle. Einem „langweiligen“ Universitätsprofessor (wie mir) kann man schnell den Vorwurf machen, dass er das vermeintliche Prinzip der Homöopathie einfach nicht verstanden habe, weil er sich eben nie – qua amt – darauf eingelassen hat. Natalie Grams hingegen, die ja selbst einmal überzeugte Homöopathin war, hat hier eine ganz andere Authentizität. Und das ist sehr gut!
Nun geht es in unserem Buch ja nicht nur um Homöopathie, sondern eben auch um anderen, wie Sie es nennen, pseudomedizinischen Unsinn – und da wäre es natürlich schön, wenn wir damit zu einem breiten Diskurs anregen könnten. Die aktuelle gesundheitspolitische Situation trägt hier sicher ihren Teil bei.
INH: Wir haben uns auf die Homöopathie „spezialisiert“, wenn auch unsere Familienseite ein breiteres Spektrum an Pseudomedizin abdeckt. Erstens ist das nun mal unsere Expertise, zweitens sehen wir die Homöopathie und ihre falsche „öffentliche Glaubwürdigkeit“ und ihre scheinwissenschaftliche Mimikry als das „Flaggschiff“ der Pseudotherapien und -mittel an, das nicht nur selbst in der Rolle einer medizinischen Methode völlig deplatziert ist, sondern auch anderen unsinnigen Angeboten und einem Vertrauen in unhaltbare Versprechungen den Boden bereitet. Würden Sie die Homöopathie ähnlich einschätzen?
Prof. Bräuer: Das sehe ich ganz genauso. Die Homöopathie ist quasi die Mutter aller Pseudotherapieformen. Sie ist ein Paradebeispiel dafür, wie man medizinische Rückschrittlichkeit salonfähig machen kann. Und zwar gestützt, gefördert und geschützt durch die Politik und das Gesundheitswesen. Eigentlich ist das beschämend für ein Land, welches für seine Pioniere und wissenschaftliche Errungenschaften bekannt ist.
INH: Gesundheitskompetenz ist ja nicht nur ein Schlagwort, sondern dezidiert ein gesundheitspolitisches Ziel. Nach neueren Untersuchungen ist es um die allgemeine Gesundheitskompetenz der Bevölkerung durchaus nicht zum Besten bestellt – Homöopathie ist ein krasses, aber nicht das einzige Beispiel. Tut die Gesundheitspolitik auf ihren verschiedenen Ebenen – vom Ministerium bis zu den Krankenkassen – Ihrer Meinung nach schlicht zu wenig oder gar Falsches in Bezug auf die Vermittlung von Gesundheitskompetenz? Wie kann es sein, dass es vielfach privaten Personen oder Vereinigungen oder Verbraucherschutzorganisationen überlassen bleibt, über Schräglagen in gesundheitsrelevanten Fragen zu informieren?
Prof. Bräuer: Exakt um diese Aspekte geht es in unserem Buch. Ich denke, vielen Menschen ist überhaupt gar nicht bewusst, dass unwissenschaftlicher Unsinn wie z.B. die Homöopathie von einer Vielzahl von Krankenkassen subventioniert wird, während unumgängliche und prognostisch sinnvolle Vorsorgeuntersuchungen (z.B. Prostatakrebsvorsorge) im gleichen Zug nicht von den Kassen bezahlt und vom Patienten selbst getragen werden müssen. Jeder Kassenpatient finanziert also sozusagen die Scharlatanerie mit. Ein unsäglich schlechtes Signal der aktuellen Gesundheitspolitik. Hinzu kommt, dass Bundesparteien sich einerseits für Klimaschutz und wissenschaftlichen Diskurs einsetzen, sich andererseits aber eben nicht von Pseudomedizin und Scharlatanerie distanzieren. Im Gegenteil. Dies ist insbesondere im Rahmen der Pandemie auffällig und absurd zugleich – nach wissenschaftlicher Hilfe und Unterstützung bei der Pandemiebekämpfung suchen, aber gleichzeitig Wunderheilern und Verschwörern eine Plattform bieten. Hier muss man ganz deutlich sagen, dass uns andere Länder, wie z.B. Großbritannien, Frankreich, selbst Russland in dieser Hinsicht klar voraus sind. Dort reguliert der Staat das einfach viel rigoroser, was in diesem Fall auch gut ist. Wenn die Politik in dieser Hinsicht eben nichts oder gar das Falsche tut, dann bin ich sehr froh, dass es zumindest noch private Personen oder Vereinigungen wie das INH gibt, die über diese Missstände aufklären.
INH: In der Pandemie ist deutlich geworden, wie schwierig eine zielgruppenorientierte Wissenschaftskommunikation ist. Das geht so weit, dass Informationen geradezu als das Gegenteil dessen rezipiert werden, wie sie gemeint sind. Gerade in der Pandemiesituation gibt es manches Beispiel dafür. Teilweise leisten auch die Medien dem Vorschub, indem z.B. Presseartikel schon von der Schlagzeile her so aufgebaut sind, dass die wirkliche “Botschaft” gar nicht deutlich wird.
Sehen Sie mittelfristig Chancen, sowohl die Wissenschaftskommunikation – insbesondere über die Medien – als auch die Rezeptionsfähigkeit in der Allgemeinheit zu verbessern? Müsste man womöglich wissenschaftlich-kritisches Denken und den Wissenschaftsbegriff selbst im Schulunterricht etablieren?
Prof. Bräuer: Wissenschaft schon frühzeitig in der Schule zu vermitteln wäre tatsächlich ein sehr guter Ansatzpunkt. Sind wir mal ehrlich, das Selbstdenken wird einem heutzutage doch praktisch komplett abgenommen, Smartphones und anderen netten Gimmicks sei Dank. Fast alles spielt sich derzeit digital ab, was nicht nur Vorteile hat. Menschen mit einer großen medialen Reichweite können ungefiltert und ungehindert Informationen (unabhängig davon, ob es die richtigen oder die falschen sind) verbreiten – das ist nicht zwingend ein Segen.
Momentan hat man den Eindruck, dass mehr Aufwand für Schadensbegrenzung durch sogenannte Faktenchecks betrieben werden muss, als das Vermitteln von tatsächlichen Fakten und von Wissen in Anspruch nimmt. Wer nicht gelernt hat, wie wissenschaftliche Daten zu interpretieren sind oder gar wissenschaftliche Publikationen gelesen werden müssen, der ist ganz klar darauf angewiesen, sich auf Andere (in dem Fall die Medien) zu verlassen. Wie aber soll man sich auf diese verlassen, wenn sie doch selbst Teil des Problems sind? Ein Beispiel: Eine Talkshow im öffentlich-rechtlichen Fernsehen lädt zwei Gäste zum gleichen Thema ein. Einer der beiden Gäste arbeitet, forscht und publiziert seit Jahren erfolgreich zum Diskussionsthema – ist also auf seinem Gebiet international anerkannt, der andere Gast ist zwar auch Wissenschaftler, allerding mit einer völlig anderen Expertise. Wie soll nun der geneigte Zuschauer (vermeintlich ohnehin Laie auf dem Gebiet) differenzieren können, welcher der beiden – lassen wir sie ruhig Professoren sein – nun recht hat? Schlicht und einfach, er kann es nicht. Wüsste er allerdings noch aus seiner Schulzeit, wie Wissenschaft tatsächlich funktioniert und dass es für Expertise tatsächlich eine Währung gibt, wäre ihm hier sehr geholfen. Man vertraut bei Zahnschmerzen ja schließlich auch dem Zahnarzt und geht nicht zum Dermatologen.
Ein weiteres großes Problem bei der ganzen Debatte sind Emotionen – jeder von uns hat es selbst schon während der Diskussion mit Impfgegnern oder überzeugten Homöopathen erlebt. Wer emotional wird, ist nicht mehr rational, und das verhindert jeden weiteren Diskurs. Leider werden letztgenannte sehr schnell emotional, weil ihnen die Argumente ausgehen. Ganz ehrlich? Ich denke, es wird ein langer und mühsamer Weg sein, die Wissenschaftskommunikation für die Allgemeinheit zu verbessern. Die Anfänge (Podcasts, Videos, Aufklärungskampagnen, etc.) sind aber glücklicherweise schon gemacht.
Abschließend möchte ich allerdings anmerken, dass man nicht immer zwingend dem Patienten für alles die Schuld geben sollte. Die meisten von ihnen suchen und finden aufgrund schlechter Erfahrungen bei ihrem Hausarzt oder beim „klassischen“ Mediziner – häufig aufgrund der stark begrenzten „Beratungszeit“ – Zuflucht bei einem Heilpraktiker. Klar, dieser lässt sich viel Zeit, hat ein offenes Ohr, erstellt eine Lebensanamnese und verschreibt am Ende sogar noch ein individuell abgestimmtes Zuckerkügelchen, das keine Nebenwirkungen hat – besser kann es doch gar nicht sein. Da sehr viele Beschwerden ohnehin selbstlimitierend sind, ist der Faktor Zeit hier natürlich zusätzlich ein ganz klarer Pluspunkt für den ganzheitlichen Ansatz. Wir haben es also praktisch selbst in der Hand.
Wir danken Prof. Lars Bräuer sehr herzlich für dieses Interview. Als gemeinsames Fazit können wir sicher ziehen: Es gibt noch viel, sehr viel zu tun im Bereich Aufklärung, Gesundheitskompetenz und Wissenschaftskommunikation. Das INH bleibt “dran” – und Menschen gerade aus der medizinischen / medizinwissenschaftlichen Szene wie Prof. Bräuer und sein Mitautor Falk Stirkat sind dabei unschätzbar. Und selbstverständlich raten wir gern zur Lektüre des Buches der beiden Autoren – wir haben es auch in die Liste unserer Buchempfehlungen aufgenommen.
Links wurden vom INH eingefügt.
Bild von Gino Crescoli auf Pixabay
Buchtitel: G+U-Verlag / Eigenes Foto
4 Antworten auf „Im Patienteninteresse – ein Interview mit Prof. Lars Bräuer“
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