Zusammenfassung
Warum die politische Privilegierung von Homöopathie so gefährlich ist - und was wir uns zum Geburtstag wünschen.
Heute, am 30. Januar 2025, jährt sich die Gründung des INH zum 9. Mal. Kein besonderes Jubiläum, auch kein „rundes“, aber doch Gelegenheit und Anlass für ein paar Gedanken.
Bereits in unserem Jahresrückblick auf 2024 hatten wir die politische Behandlung der Homöopathie und ihrer Privilegien in den Fokus gerückt. Das Nichthandeln der Politik trotz klarer Positionierung der Ärzteschaft (Ärztetagsbeschluss vom 11. Mai 2024) wirft ethische und moralische Fragen auf, die weit über opportunistische Parteipolitik hinausgehen.
Die moralische Verantwortung der Politik
Politiker tragen die Verantwortung, sachbezogene Entscheidungen zum Wohl der Bevölkerung zu treffen, die sich an den besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren (Prinzip der Intersubjektivität). Das Ignorieren einer fundierten Empfehlung der Ärzteschaft, die klarstellt, dass Homöopathie „in der Regel keine mit rationaler Medizin und ärztlicher Ethik vereinbare Option“ darstellt, bedeutet, diese Verantwortung zu unterlaufen.
Das führt dazu, dass Patienten weiterhin glauben könnten, Homöopathie sei eine wissenschaftsbasierter Medizin gleichwertige oder gar überlegene Behandlungsmethode – was nicht nur potenziell schädlich ist, sondern auch die Integrität des Gesundheitssystems untergräbt. Das bewusste Aufrechterhalten von Missverständnissen über die Wirksamkeit der Homöopathie sehen wir durchaus als moralisches Problem an, da hierbei offensichtlich Partikularinteressen über das Wohl der Patientenschaft gestellt werden.
Die Rolle der Ärzteschaft und deren Tragweite
Der Beschluss des Deutschen Ärztetages ist bemerkenswert, weil er eine klare ethische Linie zieht: Die Förderung und Anwendung der Homöopathie ist mit einer evidenzbasierten Medizin nicht vereinbar. Das ist nicht nur ein wissenschaftliches Urteil, sondern auch eine moralisch begründete Stellungnahme, die Ärzte in die Pflicht nimmt, ihre Patienten nicht mit ineffektiven oder irreführenden Behandlungen zu versorgen. Indem die Politik diese Position bislang ignoriert, stellt sie sich implizit gegen die ethischen Grundsätze, die die Ärzteschaft vertritt.
Opportunismus und wirtschaftliche Interessen
Die Interessen einer starken Homöopathie-Lobby, die ein Geschäftsmodell mit einem jährlichen dreistelliger Millionenuzmsatz vertritt, sind zwar eine Erklärung für politisches Zögern, aber keine ausreichende und vor allem keine rechtfertigende.
In Philosophie und Ethik gibt es das Konzept der „Verwerflichkeit durch Unterlassung“ (culpable omission), das hier treffend erscheint. Wenn die Politik wissentlich untätig bleibt, obwohl ihr die Evidenz gegen Homöopathie und deren potenzieller Schaden bekannt ist, dann ist dies nicht nur ein Problem von Führungsstärke und Durchsetzungsfähigkeit, sondern eine solche culpable omission. Die Verweigerung, Homöopathie rechtlich korrekt einzuordnen und ihre Privilegierung zu beenden, bedeutet, dass man bewusst falsche Vorstellungen aufrechterhält.
Indem die Politik weiterhin Homöopathie privilegiert und damit das notwendige Vertrauen in die evidenzbasierte Medizin untergräbt, das sie an anderer Stelle (z. B. beim Impfen) einfordert, handelt sie nicht nur fahrlässig, sondern gibt implizit einer postfaktischen und pseudowissenschaftlichen Sichtweise Raum – ein gefährlicher Präzedenzfall, der über die Homöopathie hinaus Wirkung zeigt.
Glaubwürdigkeit der Wissenschaft
Die politische Ignoranz in der Homöopathie-Debatte ist nicht nur ein isoliertes Problem, sondern ein Symptom für eine viel tiefere Herausforderung in unserer Gesellschaft. Wenn die Politik in einem Bereich, der so klar wissenschaftlich untersucht ist, bewusst Fakten ignoriert, schwächt das nicht nur das Vertrauen in rationale Entscheidungsprozesse – es öffnet auch Türen für noch weitreichendere Probleme.
Wie kann man Bürger dazu ermutigen, bei komplexen Themen wie Klimawandel, Pandemie-Maßnahmen oder Energiepolitik auf wissenschaftliche Expertise zu vertrauen, wenn in so greifbaren Fällen wie der Homöopathie die Politik bewusst gegen die Evidenz handelt? Die Privilegierung der Homöopathie sendet das Signal, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zwar schön und gut sind, aber unter Lobbydruck oder politischem Kalkül jederzeit beiseitegeschoben werden können. Das ist fatal, da es die Akzeptanz von Wissenschaft als Grundlage rationaler Entscheidungen systematisch untergräbt.
Präzedenzfall für andere Pseudomethoden
Die Homöopathie-Privilegierung birgt eine weitere große Gefahr: Sie schafft einen Präzedenzfall, der Begehrlichkeiten bei Befürwortern anderer pseudowissenschaftlicher oder nicht evidenzbasierter Methoden wecken kann. Wenn Homöopathie als privilegiertes System akzeptiert bleibt, warum sollten dann andere Methoden – von der „Germanischen Neuen Medizin“ über Bachblüten bis hin zu energetischen Heilmethoden – nicht ebenfalls Anspruch auf rechtliche Privilegien und Kostenerstattung erheben? Die Grenzen zwischen rationaler Medizin und pseudowissenschaftlichen Angeboten werden so immer weiter aufgeweicht, was das Gesundheitssystem und die Patienten gleichermaßen gefährdet. Leider gibt es bereits ein wenig bekanntes „Scheunentor“ für solche Begehrlichkeiten im Sozialgesetzbuch V – der § 135, der sich mit der Aufnahme neuer Mittel und Methoden in die Erstattungsfähigkeit befasst. Der lautet nämlich:
Neue medizinische Verfahren können nur dann von Krankenkassen bezahlt werden, wenn ihre Wirksamkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapieform anerkannt ist.
Man beachte den hervorgehobenen Mittelteil. Diese Passage, der einem „Binnenkonsens“ jeglicher Scharlatanerie die Türen öffnet, steht dort seit 1997. Immerhin ist da noch der Gemeinsame Bundesausschuss vor, der letztlich über konkrete Begehrlichkeiten entscheidet.
Die Privilegierung der Homöopathie ist nicht nur eine Schwächung des Gesundheitssystems, sondern auch eine Irreleitung des gesellschaftlichen Diskurses. Wenn der Eindruck entsteht, dass Pseudowissenschaft und Evidenz gleichwertig nebeneinanderstehen können, wird die Grenze zwischen Wissen und Meinung systematisch verwischt. Dies befeuert den postfaktischen Zeitgeist, in dem persönliche Überzeugungen und „alternative Wahrheiten“ zunehmend Gehör finden – oft zum Nachteil der Gesellschaft als Ganzes.
Die ethische Verantwortung der Politik
Die ethische Verantwortung der Politik besteht darin, sich für das Gemeinwohl einzusetzen und wissenschaftliche Evidenz in den Mittelpunkt ihrer Sachentscheidungen zu stellen. Indem sie dies im Fall der Homöopathie bewusst unterlässt, trägt sie nicht nur zur Förderung pseudowissenschaftlicher Praktiken bei, sondern untergräbt auch ihre eigene Glaubwürdigkeit. Diese Ignoranz ist keine Frage der politischen Strategie, sondern eine moralische Kapitulation vor populistischen und wirtschaftlichen Interessen. Und die ist auch mit dem ansonsten in einer demokratischen Gesellschaft selbstverständlichen Kompromiss nicht zu rechtfertigen – was sollte bei der Faktenlage Basis für einen Kompromiss sein?
Was getan werden muss
Es ist entscheidend, dass die Politik endlich handelt und die Privilegierung der Homöopathie beendet. Dies ist nicht nur eine Frage der Rationalität, sondern auch eine des Vertrauens in das Gesundheitssystem und die Wissenschaft als Ganzes. Darüber hinaus muss sie klarstellen, dass das Gesundheitssystem keine Plattform für Pseudomethoden ist, sondern ausschließlich auf evidenzbasierten Grundlagen fußt. Nur so kann verhindert werden, dass der Schaden, den die Homöopathie-Privilegierung bereits angerichtet hat, sich noch weiter ausweitet.
Eine eindeutige und nachhaltige Positionierung ist hier notwendig – so wie wir sie vertreten und weiter vertreten werden. Unsere Aufklärung kann sich nicht darauf beschränken, Fakten zu vermitteln, sondern muss auch die ethischen und gesellschaftlichen Konsequenzen falscher Entscheidungen aufzeigen. Wir finden es wichtig, nicht nur für die Fakten, sondern auch für die Prinzipien einzutreten. Hier liegt auch der Schlüssel, um das Vertrauen in Wissenschaft und evidenzbasierte Medizin zu erhalten und auch zurückzugewinnen.