Ist Homöopathie deshalb “kein Placebo”, weil oft nicht das erste gegebene Mittel wirkt?

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Nachdenklicher Mann neben mehreren Medikamentenflaschen. Symbolbid zum Artikelthema.

Was passiert eigentlich nach der homöopathischen Lehre bei der Einnahme eines Mittels?

Gelegentlich wird man mit dem Argument konfrontiert, die Wirkung der Homöopathika könne deshalb nicht auf einem Placeboeffekt beruhen, weil oftmals gar nicht das erste Homöopathikum „geheilt“ habe, sondern erst das zweite, dritte, vierte oder fünfte …

Tatsächlich scheint dieses Argument auf den ersten Blick etwas für sich zu haben. Bei genauer Betrachtung zeigt sich aber, dass es nicht etwa für, sondern gegen die Homöopathie spricht.

Hinter diesem Argument verbirgt sich zunächst allerdings eine Begriffsverwirrung.

Es geht nicht nur um „Placebo“

Einerseits gibt es den etablierten Begriff der „Placebowirkung“, womit die Reaktionen gemeint sind, die auch inhaltsleere Medikamentenformen im Körper auslösen können. Diese eigentliche Placebowirkung ist keine konstante Größe. Sie ist krankheitsabhängig sowie in Eintrittszeitpunkt, Stärke und Dauer höchst individuell und nicht vorhersagbar. Sie ist aber auch abhängig von Eigenschaften des Placebos: Es ist bekannt, dass teurere Placebos eine stärkere Wirkung haben als billige und rote Placebos eine stärkere Wirkung haben als grüne. Der Placeboeffekt lässt sich nicht kalkulieren oder gar beherrschen. Er kann nicht von der Natur so eingefordert werden, dass er seinem Klischee entspricht.

Dieser Placeboeffekt (im engeren Sinne) ist aber andererseits nicht der einzige Grund, weshalb es nach der Gabe von Homöopathika zu einer Empfindung von Besserung oder Heilung kommen kann. Weitere wesentliche Gründe sind:

    1. Spontaner Krankheitsverlauf. Viele (die meisten) Krankheiten heilen spontan aus. Viele andere, vor allem chronische, Krankheiten haben einen wellenförmigen Verlauf, so dass auf „schlechte Zeiten“ spontan wieder „gute Zeiten“ folgen („Regression zur Mitte“)
    2. „Bestätigungsfehler“ und „selektive Wahrnehmung“. Kleine positive Erlebnisse werden als Therapieerfolg gewertet, negative Entwicklungen jedoch nicht der Therapie angelastet.
    3. „Post-hoc-ergo-propter-hoc“-Irrtum. Alle Veränderungen nach der Einnahme werden kausal auf die Einnahme zurückgeführt, obwohl  Kausalität nicht gegeben ist, sondern nur ein einfacher zeitlicher Zusammenhang.
    4. Erwartungsdruck und Erwartungshaltung.
    5. Kann fortgesetzt werden …

Wenn nicht das erste Homöopathikum als wirksam angesehen wird, sondern erst ein zweites, drittes, weiteres, dann kommen mehrere Punkte zusammen. Einerseits sieht man in diesen Verläufen auch nichts anderes als den spontanen Krankheitsverlauf. Die Homöopathika haben überhaupt nichts mit der „Heilung“ zu tun. Die Besserung wird einfach dem zuletzt verwendeten Homöopathikum zugeschrieben. Auch wird mit jeder weiteren Gabe von Homöopathika der Erwartungsdruck des Therapeuten sowie die Erwartungshaltung des Patienten größer, was Scheinerfolge vortäuschen kann. Auch wird der Begriff „Erfolg“ oder „Heilung“ nicht im objektiv-medizinischen Sinne definiert; üblicherweise berichten die Patienten nur von ihren subjektiven Empfindungen. Aber auch Verschlechterungen werden häufig als „Erfolg“ bezeichnet: Der Begriff „Erstverschlimmerung“ zeigt an, dass Verschlechterungen als beweisend für die richtige Mittelwahl angesehen werden.

Kann eine homöopathische Mittelgabe „unwirksam“ sein?

Die Vorgehensweise der Homöopathen, solange andere Mittel zu geben, bis schließlich irgendwann etwas Erwünschtes passiert, zeigt nicht nur die therapeutische Hilflosigkeit der Homöopathie und die Fehlbewertung des Zufalls bzw. völlig natürlicher Verläufe als „Erfolg“ – sie steht auch in krassem Widerspruch zu Hahnemanns Lehre.

Hahnemann begründet sein Ähnlichkeitsprinzip durch das Postulat, ein Körper könne nicht gleichzeitig zwei ähnliche Krankheiten haben – er müsse sich dann von einer, namentlich der schwächeren, trennen. In „Arzneimittelprüfungen“ – an Gesunden! – werden Homöopathika auf von ihnen vorgeblich erzeugte „Arzneimittelbilder“ hin untersucht. Zeigt ein Patient Symptome, die denen eines Arzneimittelbildes ähnlich sind, dann ist das richtige Mittel gefunden. Die richtige Auswahl der „Potenz“ soll dann sicherstellen, dass das Homöopathikum vom Wesen her stärker, aber von den Symptomen her schwächer als die Erkrankung sein soll (was man sich auch immer darunter vorstellen mag). Aufgrund dessen soll sich der Körper von der „richtigen“ der beiden Krankheiten trennen (der vergleichsweise schwächeren Originalkrankheit), aber dabei nicht leiden (wegen der vergleichsweise schwächeren Symptome der Kunstkrankheit).

Zeigt sich eine nicht vollständige Genesung, so ergeben sich aus der Logik der Homöopathie daraus bestimmte Schlussfolgerungen, vor allem die, dass das bisherige Mittel nicht „unwirksam“ gewesen ist. Was bedeutet das?

Nach der homöopathischen Lehre müsste bei der Wahl des „richtigen“ Mittels der „Heilerfolg“ schnell und vollständig eintreten:

„… schnelle, sanfte, dauerhafte Wiederherstellung der Gesundheit, oder Hebung und Vernichtung der Krankheit in ihrem ganzen Umfange auf dem kürzesten, zuverlässigsten, unnachtheiligsten Wege …“ (§ 2 Organon)

Kommt es zu einer Veränderung anstelle einer vollständigen Genesung, hat die homöopathische Arznei – wohlgemerkt: in der Vorstellungswelt der Homöopathie – einen Teil der Symptome verändert und damit das Symptomenbild. Selbst wenn das Homöopathikum bezüglich der Krankheit völlig unwirksam war, so hat dennoch zumindest eine „Arzneimittelprüfung am Gesunden“ stattgefunden:

Ein homöopathisches Mittel kann nach den Regeln der Homöopathie keine „Nichtwirkung“ haben – auch ein „falsches“ Mittel nicht. Homöopathische Mittel wirken (aus homöopathischer Sicht) auf Symptome ein: Sind Symptome im Krankheitsbild vorhanden, die auch im Arzneimittelbild des Homöopathikums enthalten sind, dann werden sie „ausgelöscht“. Sind im Krankheitsbild Symptome vorhanden, die nicht im Arzneimittelbild des Homöopathikums enthalten sind, bleiben sie unverändert erhalten. Sind aber umgekehrt Symptome im Arzneimittelbild vorhanden, nicht jedoch im Krankheitsbild, dann werden sie beim Patienten – der ja hinsichtlich der nicht vorhandenen Symptome als „teilweise gesund“ gilt -, erzeugt, wie bei einer normalen Arzneimittelprüfung an einem vollständig Gesunden auch.

In jedem Fall werden also – nach der homöopathischen Lehre – durch die Gabe eines Homöopathikums Veränderungen hervorgerufen, die zu einer Änderung des Symptomenbildes führen. Entweder wirkt es auf die „Krankheit“ oder aber im Sinne „homöopathischer Arzneimittelprüfung“ durch die Verursachung von Symptomen. Damit ist die wiederholte Gabe der gleichen Arznei (also mit unverändertem Arzneimittelbild) in jedem Fall ein „Fehlgriff“, gegen den Hahnemann schon zu seiner Zeit scharf vorgegangen ist:

Wenn man bei jedem neuen Therapieversuch ein anderes Mittel „ausprobiert“, hat das zur Folge, dass eine korrekte Auswahl („Repertorisierung“) bei keinem weiteren Homöopathikum mehr möglich ist: Die Überlagerung der kompletten oder teilweisen Symptombilder aus allen früheren Mittelgaben machen eine – nach homöopathischen Kriterien – korrekte Mittelwahl unmöglich.

Die Unart, Patienten nach „Versuch und Irrtum“ zu behandeln, spricht deshalb keineswegs für die Wirksamkeit der Homöopathika. Im Gegenteil entzieht diese Praxis dem homöopathischen Gedankengebäude Hahnemanns einmal mehr entscheidenden Boden. Es handelt sich um den verzweifelten Versuch der Homöopathen „irgendwann“ und „irgendwie“ doch noch als „erfolgreich“ wahrgenommen zu werden. Ein solches Vorgehen provoziert geradezu eine erhebliche Verzögerung wichtiger Behandlungsmaßnahmen und nimmt sie billigend in Kauf, was zu schweren Schäden führen kann. Von einem „Beweis für die Wirkungsweise der Homöopathie“ kann nicht die Rede sein, wenn man solange Zufallsereignisse produziert, bis ein – nicht kausales – gewünschtes Ereignis eintritt.


Autor: Dr. med. Wolfgang Vahle


Bild von mohamed Hassan auf Pixabay

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