Totes Kind in Italien: DZVhÄ sieht „ärztlichen Kunstfehler“

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 Das Bild zeigt einen schwimmenden Eisberg, dessen größter Teil unter Wasser steht, zur Illustration der Metapher von der Spitze des Eisbergs
Spitze des Eisbergs?

In Italien kam jüngst ein Kind zu Tode, weil seine Eltern und der behandelnde Arzt nur auf Homöopathie setzten. Der DZVhÄ sieht hier einen „ärztlichen Kunstfehler“, also im Grunde den berühmten bedauerlichen Einzelfall, jedoch keine Verantwortlichkeit der Homöopathie als solcher.

Was ist ein „Kunstfehler“ in der ärztlichen Profession? Die korrekte juristische Bezeichnung ist „Behandlungsfehler“. Er bedeutet, dass eine medizinische Behandlung nicht nach den bestehenden, allgemein (also nach wissenschaftlichen Grundsätzen) anerkannten Standards erfolgt. Dass Homöopathie nicht zu diesen allgemein anerkannten medizinischen Standards gehört, ist eine Tatsache, die von der Ansicht der weltweiten Wissenschaftsgemeinde beglaubigt wird. Weshalb der DZVhÄ sich in diesem Zusammenhang auf die evidenzbasierten ärztlichen Leitlinien beruft, verwirrt ohnehin. Wem oder was fühlt sich die homöopathische Ärzteschaft verpflichtet, den Leitlinien oder einem Anspruch der Homöopathie, wie ihn die Vorsitzende auf ihrer eigenen Homepage erhebt? (1) Beides zugleich ist nicht möglich.

Es scheint etwas vermessen vom DZVhÄ, hier von einem „Kunstfehler“ zu sprechen – denn nach den oben erläuterten Maßstäben betrachtet, wäre jede Behandlung, die ein Arzt auf homöopathischer Grundlage durchführt, ein „Behandlungsfehler“, weil er damit von den allgemein anerkannten Standards abweicht. Jedenfalls so lange, wie er eine ausschließliche Behandlung mit Homöopathie durchführt, wie im vorliegenden Fall.

Nur am Rande sei erwähnt, dass diese Überlegungen ohnehin keine Relevanz für nichtärztliche homöopathische Behandler haben, die allerdings vielfach auch kein Problem damit haben, mit Homöopathie auch Erkrankungen heilen zu wollen, bei denen die Selbstheilungskräfte versagen.

Vielmehr muss man den Fall wohl folgendermaßen betrachten:

    • Prinzipiell schüren Homöopathen, auch der DZVhÄ und allen voran Frau Bajic selbst (z. B. auf ihrer Homepage (1)), die Hoffnung, die Homöopathie könne genau in solchen und vielen anderen Fällen helfen. Das passt mit dem relativierenden Rückzug in der Stellungnahme des DZVhÄ schon einmal nicht zusammen.
    • In der Entscheidung für eine homöopathische Behandlung anstelle wissenschaftlicher Medizin ist das Schadenspotenzial bereits im Kern angelegt. Das potenzielle Risiko für solche Vorkommnisse besteht bei einer Entscheidung für eine homöopathische Behandlung im Grundsatz und von Anfang an. Anders ausgedrückt: Vorfälle wie der hier in Rede stehende sind nicht in dem Sinne unerwartet wie ein „Produktionsfehler“ oder ein ähnlicher Vorfall des täglichen Lebens. Sie sind der Methode inhärent, systemisch, Manifestationen eines von vornherein unnötig erhöhten Risikolevels, da die Homöopathie keine spezifische arzneiliche Wirkung anbieten kann. Beim Zusammentreffen einer nicht (mehr) selbstlimitierenden Erkrankung und der irrigen Annahme, diese mit Homöopathie bekämpfen oder gar heilen zu können, verwirklicht sich dieses Risikopotenzial zwangsläufig, natürlich nicht sehr häufig bis hin zu Todesfällen (der erste Fall dieser Art war dies aber durchaus nicht).
    • Nicht umsonst ist der Hauptkritikpunkt an der Homöopathie, dass durch sie wirksame medizinische Behandlungen unterbleiben oder verzögert werden können. Diese Warnung ist oft genug ausgesprochen worden. Selbst eine komplementäre (begleitende) Behandlung mit pseudomedizinischen Mitteln oder Methoden beeinträchtigt den Behandlungserfolg fundierter Therapien, z.B. durch mangelnde Compliance. Allein deshalb ist es verfehlt, jetzt von einem „Kunstfehler“, einem menschlichen Versagen im Einzelfall, zu sprechen.
    • Der DZVhÄ verkennt hier die Realität, in der Patienten auf eine tatsächliche und medizinisch-gleichwertige arzneiliche Wirkung von Homöopathika vertrauen – nicht zuletzt, weil (nicht nur) er eine solche immer wieder propagiert.
    • Es ist nicht unüblich, dass Homöopathie-Anhänger sich komplett von der Medizin abwenden, diese als „Gift“, „Chemie“ und „schädlich“ ansehen und gerade auch eine Antibiotika-Therapie ablehnen. Bereits dieser Effekt ganz ohne Bezug zu einem konkreten Behandlungsfall lässt ein systemisches Risiko für Anhänger der Methode erwachsen. In den Eltern des verstorbenen Jungen hat sich exakt dies konkret manifestiert.

Deshalb zum wiederholten Male die Frage: Ist es für die politischen Akteure des Gesundheitswesens verantwortbar, die Konsumenten bzw. Patienten diesem Gefahrenpotenzial weiterhin durch eine de-facto-Gleichstellung der Homöopathie mit der evidenzbasierten Medizin auszusetzen? Und die Menschen in dem Glauben und Vertrauen zu lassen, die Homöopathie sei eine – sogar gesetzlich legitimierte – spezifisch wirksame Arzneitherapie?

Den „Kunstfehler“ – im Sinne des berüchtigten „bedauerlichen Einzelfalls“ – möchten wir deshalb nicht so stehen lassen. Wir sind vielmehr der Ansicht, dass sich hier das potenziell in jeder unwirksamen „alternativen“ Therapie enthaltene systemische Risikopotenzial in besonders tragischer Weise manifestiert hat.

Wir sehen hier eher die „Spitze des Eisbergs“ als einen „einzelnen Kunstfehler“. Es gibt sicherlich eine Dunkelziffer, die wir alle nicht kennen. Und: Dieser Junge verstarb in einer „normalen“ Klinik. Wie oft wird eine homöopathische Vorbehandlung mit ihren Folgen nicht bekannt werden, wenn sie in einen Behandlungsfall der normalen Medizin mündet und mit allen möglichen Folgen bis hin zum Tod in deren Statistiken verzeichnet wird?

Das Besondere an diesem Fall ist deshalb seine Publizität. Der nächste „Einzelfall“ wartet schon. Es wird hoffentlich nicht wieder gleich ein Todesfall sein. Den Fehler hier nicht systemisch bei der Homöopathie zu sehen, weist eindeutig in die falsche Richtung.


Nachtrag, 09. Juni 2019

Die Eltern des verstorbenen Jungen wurden, wie der Independent berichtet, nun zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten auf Bewährung wegen Totschlags verurteilt.

Wie immer, ist es sehr schwer, in einem solchen Fall über individuelle Schuld zu befinden. Achtung gebührt den Eltern, dass sie sich spontan für eine Freigabe zur Organtransplantation entschieden hatten.  Es wird auch berichtet, die Eltern seien durchaus nicht grundsätzlich gegen die wissenschaftliche Medizin gewesen, aber seien in Sorge gewesen, weil er früher schon „viel“ Antibiotika erhalten habe. Nun sind das grundsätzlich legitime und verständliche Besorgnisse medizinischer Laien. Der Grundfehler lag aber darin, bei dieser Ausgangslage auf die Homöopathie zu vertrauen, statt sich an einen kompetenten Arzt zu wenden. Und das auch noch aufgrund der Konditionierung durch frühere „Heilerfolge“. Uns nur allzu wohlbekannte Dinge.

Nicht leichter wird die Sache dadurch, dass es sich nach den bisher bekannt gewordenen Informationen (Quelle: Corriere della sera) bei dem „Therapeuten“ um einen Mann handeln soll, der zeitweilig von der Ärztekammer ausgeschlossen war und in dieser Zeit verschiedensten Beschäftigungen nachging. Auf die Erkundigung der Ärztekammer Pesaro nach der Aufnahme seiner Homöopathen-Tätigkeit soll er geantwortet haben, er habe „kein Interesse an einer Antwort“. Schwer wiegt, dass er wohl den Eltern aktiv davon abgeraten hatte, den Jungen in eine Klinik zu bringen – mit Horrorgeschichten darüber, was man ihm dort verabreichen werde. Der Prozess gegen ihn ist auf den 24. September terminiert.

Wir sehen ein weiteres Mal einen der Kernpunkte unserer Kritik bestätigt: Bei allem Unverständnis dafür, wie man sich einem solchen „Therapeuten“ anvertrauen kann: Es ist nicht zu verantworten, die Homöopathie in ihrer positiven öffentlichen Reputation zu belassen oder gar zu bestärken, es handle sich um eine bewährte, nachweisliche wirksame und der wissenschaftlichen Medizin letztlich gleichwertige Methode. In Deutschland wird diese Fehlwahrnehmung auch noch massiv gefördert durch das gesetzliche Privileg des Binnenkonsens und die Erstattungspraxis der Krankenkassen. Dass jeder „Nichtbehandlung“ wie der Homöopathie immanente Risiken innewohnen, die mit denen einer wissenschaftlich fundierten Behandlung nicht verglichen werden können, muss doch zum Umdenken zwingen.

Ohne dieses Umdenken und Umsteuern werden auch weiterhin solche individuellen Fehlentscheidungen wie in diesem Fall grundlegend befördert. Und das halten wir für nicht weiter verantwortbar – mehr, das war es noch nie. Politik und Krankenkassen bleiben dringend aufgerufen, hier das ihre zu tun.

Nachtrag, 27.10.2020

Natürlich haben wir den Fortgang der Sache im Auge behalten, da ein gerichtliches Vorgehen gegen den Arzt ja angekündigt war. Als Kläger treten die Großeltern auf, da die Eltern selbst wegen der Sache verurteilt wurden. Was sehr bemerkenswert ist: Als Nebenkläger wurde die italienische Nationale Verbraucherschutzvereinigung zugelassen, die wiederum von einer ganzen Reihe hochkarätiger Experten der Organisation „Patto Trasversale per la Scienza“ (Gemeinsamer Verband für die Wissenschaft) beraten und unterstützt wird.

Die für Ende September 2019 vorgesehene Anhörung wurde auf den 14. Januar 2020 verschoben – zu diesem Termin haben wir nichts Näheres recherchieren können. Und dann kam Corona…

Nachtrag, 28.04.2021

Nach langer coronabedingter Pause ging der Prozess mit einer weiteren Anhärng am 27.04.2021 in die nächste Runde.

Die Tante des verstorbenen Jungen, die den Krankheitsverlauf und die Behandlung aus eigener Anschauung schildern konnte, kam ausführlich zu Wort.

„Hohes Fieber, Erbrechen, eine ’normale Reaktion‘ auf das Virus, das ’nur auf diese Weise besiegt werden könne‘, ohne Medikamente, Antibiotika oder Schmerzmittel, die ‚zur Taubheit führen‘ und weil ‚Todesfälle im Krankenhaus durch Medikamente, nicht durch Krankheiten verursacht werden‘. So der von der Tante geschilderte O-Ton des angeklagten Arztes.

Aurora Olivieri war bei zahlreichen Telefongesprächen zwischen der Mutter des Kindes und Mecozzi anwesend und war auch beim Arztbesuch am 23. Mai, dem Tag vor der Einlieferung ins Krankenhaus, zugegen. Die Tante erzählte, dass der Arzt, als er die ärztlichen Unterlagen des Kindes las, die die Eltern zu Hause hatten, sagte: „Er hat all diese Impfungen bekommen, deshalb ist er vergiftet (intossicato)“. Als die Mutter berichtete, dass das Kind nachts klagte, ‚verschrieb der Arzt ein homöopathisches Präparat gegen Schlafstörungen‘, berichtete die Frau der Richterin Francesca Pizii. Auf die Frage, ob das Kind im Krankenhaus untersucht werden sollte, soll Mecozzi mehrmals mit „Nein“ geantwortet haben.

Bei den Besuchen, so berichtet die Tante, ’sagte er, dass man sich wegen des hohen Fiebers von bis zu 43 Grad keine Sorgen machen müsse, da dies die Reaktion des Körpers sei, der gut auf das Virus reagiere‘. Bei der heutigen Anhörung wurden auch ein Arzt aus der Notaufnahme des Krankenhauses von Urbino, der Babysitter, der Kinderarzt des Kindes, der den kleinen Patienten seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte, und der Leiter der Wiederbelebung im Krankenhaus von Salesi angehört.“

(Quelle: Quotidiano Nazionale, Regionalausgabe Ancona, Cronache-ancona.it).

Nachtrag, 21.10.2021

Am 20.10.2021 sollte im Prozess eigentlich der italienische Virologe (der „italienische Drosten“) Matteo Bassetti aussagen, der zunächst nur als Zeuge der Zivilklage vorgesehen, dann aber vom Staatsanwalt zum Zeugen der Anklage gemacht worden war. Bassetti konnte nicht vor Gericht erscheinen – die massiven Anti-Vax-Proteste vor Ort verhinderten dies aus Sicherheitsgründen. Jedoch hatte Bassetti sein schriftliches Gutachten hinterlegt, das von der Staatsanwaltschaft vorgetragen wurde. Darin stellt er klar, dass „die Verwendung von homöopathischen Mitteln, die Francesco verabreicht wurden, durch keinerlei wissenschaftliche Beweise gerechtfertigt und in keinen nationalen oder internationalen Leitlinien für die ordnungsgemäße Behandlung der akuten Otitis media enthalten ist“,
(Quelle: Quotidiano Nazionale, Regionalausgabe Ancona,)


Nachtrag, 20.02.2023

Wie wir recherchieren konnten, ist vor kurzem das Endurteil gegen den Arzt Massimiliano Mecozzi rechtskräftig geworden.

„Senigallia 04/11/2022 – Das Strafgericht von Ancona unter dem Vorsitz von Richter Pizzi hat Dr. Massimiliano Mecozzi, der von der Staatsanwaltschaft von Ancona, vertreten durch Daniele Paci, beschuldigt wird, den Tod des siebenjährigen Francesco Bonifazi provoziert zu haben, zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe und dem Entzug der Zulassung zu öffentlichen Ämtern verurteilt. […]

Die Verhandlung verlief inmitten von Auseinandersetzungen zwischen den Sachverständigen der jeweiligen Parteien und zwischen den jeweiligen Rechtsvertretern.

Mecozzi argumentierte mit der Außergewöhnlichkeit des Ereignisses, das auch durch die Verabreichung von Antibiotika nicht hätte vermieden werden können. Die Zivilparteien hingegen haben stets auf dem fahrlässigen Verhalten des nun verurteilten Arztes bestanden, insbesondere darauf, dass er der Familie eine homöopathische Behandlung als Alternative zu den vom Gesundheitsministerium angenommenen Protokollen der traditionellen Medizin vorgeschlagen hat, die eine Antibiotikatherapie vorschreiben, und dass er die mit den Eltern des Kindes ausgetauschten Nachrichten gelöscht hat, um sein fahrlässiges Verhalten zu verbergen. Der Nationale Verbraucherverband hat über seinen Anwalt Corrado Canafoglia, und Prof. Enrico Bucci die Präzedenzfälle einer solchen Methode rekonstruiert und dargelegt, dass der Fall des kleinen Francesco leider kein Einzelfall ist, und erinnerte insbesondere an zwei Fälle, von denen sich einer 1991 in Neuseeland und der andere 2015, nur zwei Jahre vor der Geschichte des kleinen Francesco, ereignete.

„Eine dramatische Angelegenheit, ein Kind darf nicht sterben, weil es kein Antibiotikum erhalten hat. Die traditionelle Medizin darf nicht durch alternative Methoden ersetzt werden. Meine Gedanken sind bei Francescos Familie und mein Dank gilt den Professoren Enrico Bucci und Matteo Bassetti, die alles getan haben, um die Wahrheitsfindung zu unterstützen“, sagt Rechtsanwalt Corrado Canafoglia, Rechtsberater des Nationalen Verbraucherverbandes.“

Quelle: vivasenigallia.it

Na, immerhin.

 


(1) Zitat: „Ich arbeite seit 1997 in eigener Praxis klassisch-homöopathisch. Diese Methode erlaubt es, nicht nur akute Erkrankungen, wie z.B. grippale Infekte, Husten, Magen-Darm-Infekte, Mittelohrentzündungen etc…. schnell und sanft zu heilen, sondern ist auch eine Möglichkeit, schwere chronische Erkrankungen, wie z.B. Asthma, Rheuma, Neurodermitis, Bluthochdruck etc.… zu behandeln. Mit Hilfe der homöopathischen Anamnese wird die Symptomatik der Krankheit herausgearbeitet und daraufhin das passende homöopathische Arzneimittel verabreicht. Es kommt zu einer Umstimmung des Organismus.“ (Aufgerufen am 1. Juni 2017)


Zu Antibiotika und Homöopathie mehr hier.

Mehr dazu auch bei „Die Ausrufer“ LMHI – Antibiotika und tote Kinder und bei DAZonline.


Autoren: Dr. Natalie Grams, Dr. Norbert Aust, Udo Endruscheit


Bildnachweis: Fotolia 145924672_5

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