“Wir alle verarbeiten Informationen nicht so aufmerksam und reflektiert, wie wir glauben.”
Schnelles Denken versus langsames Denken
Menschen verwenden zwei verschiedene Denksysteme. Normalerweise urteilen wir intuitiv, ohne Reflexion und nach gelernten, verallgemeinerten und oft irrationalen Regeln, die aber nicht bewusst wahrgenommen und in Frage gestellt werden. Solche intuitiven Regeln sind etwa: “Verlust von etwas ist schlimmer als ein gleich hoher entgangener Gewinn” – “Wenn ein Ereignis nach einem anderen auftritt, ist es vom ersten verursacht” – “Meine Ansicht zu einem Thema entspricht der Meinung der Mehrheit” – “chemisch ist schlecht, natürlich ist gut” oder auch “wissenschaftliche Erklärungen sind nur eine von mehreren gleichwertigen Sichtweisen”. Dieses System hat durchaus seine Vorteile, es ist schnell und bei alltäglichen Entscheidungen in einer stabilen Umwelt meist effektiv. Man nennt es auch das schnelle Denken.System zwei, das langsames Denken genannt wird, ist das logische und systematische Nachdenken, das Abwägen verschiedener Alternativen nach rationalen Gesichtspunkten. Es ist langsam, führt aber besonders unter unsicheren Bedingungen oder bei wichtigen Entscheidungen zu verlässlicheren Ergebnissen. Besonders Wirtschaftswissenschaftler mit ihrem Modell des “homo oeconomicus” sind übrigens der (häufig irrigen) Meinung, dass sich Menschen immer rational verhalten.
Das langsame rationale System muss erst bewusst aktiviert werden, während das intuitive dauerhaft “in Betrieb” ist. Dadurch wird es auch bei wichtigen und folgenschweren Entscheidungen nicht immer wirksam. Wir wägen also nicht die wichtigen Argumente ab, sondern lassen uns in der intuitiven Denkweise oft durch vollkommen unwichtige Kriterien beeinflussen. So gibt es Studien, dass die Urteile von Richtern nach dem Essen milder waren als vorher – der Blutzuckerspiegel hatte die Entscheidung beeinflusst und nicht ausschließlich die rationale Abwägung.
Die Homöopathie “füttert” das schnelle Denken
Die intuitive Ebene ist umso mächtiger, je zentraler eine Überzeugung für das eigene Wertesystem ist. Beim verfestigten Glauben an die Wirksamkeit von Homöopathie etwa nutzt es wenig, einzelne Punkte zu widerlegen, da sie durch andere gestützt werden – Zweifel würden das eigene Selbstbild in Frage stellen! Erfahrungen, die dem festen Glauben widersprechen (ein Mittel wirkt nicht), stellen nicht das Mittel bzw. die Homöopathie als solche in Frage, sondern werden innerhalb des Systems (falsche Anwendung, falsche Randbedingungen, falscher Homöopath) erklärt. Als Faustregel kann gelten: Je weniger umfangreich ein intuitives Regelsystem ist bzw. je weniger zentral eine Regel wie “chemisch vs. biologisch” im Wertesystem, desto weniger immun sind sie gegen Irritationen wie die logische Widerlegung. In diesem Fall kann man die rationale Auseinandersetzung in Gang setzen, indem man die Intuition in Frage stellt, die Regel sozusagen “stolpern” lässt: „Warum soll etwas wirken, was keinerlei Wirkstoff enthält?“. Jemand, für den Homöopathie keine zentrale Bedeutung hat, wird über das Argument nachdenken und vielleicht zu eigenen Schlüssen kommen. Ein überzeugter Homöopathie-Anwender wird die Argumentationsebene wechseln und das vermeintliche Wassergedächtnis ins Spiel bringen.
Unsere Urteile und unser Verhalten werden meist stärker durch die intuitive Ebene bestimmt als durch die rationale. Die Welt ist zu komplex, um jeden Input ausführlich verarbeiten und rational beurteilen zu können. Also verwenden wir kognitive Heuristiken, die uns schnelle Orientierung und Handlungsanleitung ermöglichen. Eine dieser Heuristiken ist etwa das intuitive Urteil über einen Text nach den Konnotationen der verwendeten Wörter, also den emotionalen Bedeutungen, die die Begriffe subjektiv haben. Wenn schnelle Reaktionen gefordert sind – und das sind sie meist im Alltag (etwa: Ist dieses Produkt interessant für mich? Lese ich diesen Text weiter? Entspricht diese Information meiner Meinung?) -, lassen wir uns in der Regel von diesem ersten subjektiven Eindruck leiten und nicht von rationaler Überlegung.
Wie überzeugt man Homöopathie-Befürworter?
Durch rationale Argumente eher nicht, denn das rationale Denken ist weitgehend “ausgeschaltet” bei der Beurteilung der geliebten Heilmethode. Die Wahl der Begriffe bei der Kommunikation mit Gläubigen der Alternativmedizin ist trotzdem wichtig für die Akzeptanz der Argumente. Der Ausdruck “nicht kompliziert” in einer Produktbeschreibung hinterlässt ein negativeres Gefühl als der Begriff “einfach”, obwohl beide dieselbe Bedeutung haben. Wir werden das Produkt eher nicht kaufen oder eine kommunizierte Information eher nicht akzeptieren. Dieser Effekt tritt grundsätzlich bei verneinten Aussagen auf, vor allem in schriftlicher Kommunikation: Erinnert wird dauerhaft die negative Nebenbedeutung und nicht der objektive Inhalt.
Das Phänomen der Reaktion auf die Konnotationen statt auf Inhalte lässt sich einfach nachprüfen: Wie nimmt eine Gegnerin von Alternativmedizin spontan einen Text wahr und bewertet ihn, der einige der folgenden Worte enthält, womöglich schon in der Überschrift: Achtsamkeit – sanft – natürlich – feinstofflich – Quantenheilung – energetisch – Heilerin? Wie lange wird sie weiter lesen? Wird sie ein Buch kaufen, das mit solchen Begriffen beworben wird?
Deshalb sollten auch Begriffe vermieden werden, die in einschlägigen Diskussionen schon ihre eigene Bedeutung erlangt haben und von einer Seite vereinnahmt wurden, also in einer intuitiven Regel gespeichert sind. Sie erzeugen automatisch Vorstellungen, die das Ziel der Kommunikation – nämlich eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema und der vermittelten Information – von Anfang an behindern oder unmöglich machen. Beispiele für solche belasteten Begriffe sind etwa “chemisch” vs. “biologisch”, “Esoterik”, “Wissenschaft”, “Pharmaindustrie” oder “Zuckerkügelchen”.
Auf der anderen Seite erfasst man als Homöopathie-Anhänger die Assoziationen der Homöopathie wie “natürlich”, “sanft” oder “nebenwirkungsfrei” auch intuitiv und neigt sich dem emotional rasch zu – oft, ohne diese Assoziationen weiter zu hinterfragen. Vielleicht gelingt es aber über die richtige Wortwahl, bei bisherigen Befürwortern, den Schalter von schnellem auf langsames Denken “umzulegen” und sie für neue Argumente gegen ihren bisherigen Glauben zu sensibilisieren – auch dafür setzt sich das INH ein.
Autorin: Dr. Susanne Kretschmann ist Dipl.-Psychologin mit den Schwerpunkten Kognitions- und Umweltpsychologie
Zum Weiterlesen:
>> Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, übersetzt von Thorsten Schmidt, Penguin Taschenbuch, 624 Seiten (2016)
>> “Wie die Homöopathie den gesunden Menschenverstand außer Kraft setzt”
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