Wie die Homöopathie den gesunden Menschenverstand außer Kraft setzt

Lesedauer / Reading Time: 3 min
Das Bild zeigt einen an einer Tafel stehenden Hochschullehrer mit erklärender Geste.
Gut aufpassen!

Als Hochschullehrer versuche ich meinen Studierenden vor allem eines zu vermitteln:
Gesunden Menschenverstand.
Damit meine ich die Bereitschaft und die Fähigkeit, beim Denken einfache Vernunftgrundsätze einzuhalten, z.B. den Grundsatz, nicht nur die Pro-Argumente für eine Position zu beachten, sondern auch die Contra-Argumente.

Jeder meiner Studierenden akzeptiert diese Vernunftgrundsätze – meist sofort und ohne Widerrede. Jeder! Denn sie sind so einleuchtend, dass unsere eigene Vernunft uns dazu zwingt, sie zu akzeptieren.

Nicht selten fragen mich Studierende, warum ich so viel Zeit aufwende, um Dinge zu erklären, die eigentlich jedes Kind verstehen sollte. Der Grund dafür ist einfach: Der gesunde Menschenverstand ist solange ein Kinderspiel, bis er es nicht mehr ist. Wenn wir über Fragen nachdenken, zu denen wir keinen emotionalen Bezug haben, sind wir nüchtern, abgeklärt, vernünftig. Unser gesunder Menschenverstand funktioniert. Das hat allerdings ein Ende, sobald es um Dinge geht, die uns am Herzen liegen. Hier ist uns jedes Mittel recht, um diejenige Position zu stützen, die uns am sympathischsten ist. Wir suchen dann händeringend nach Belegen für unseren Standpunkt und ignorieren alles, was dagegen spricht. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang vom „confirmation bias“ bzw. „disconfirmation bias“. Ein Forscherteam um den amerikanischen Psychologen Dan Kahan hat sogar herausgefunden, dass Versuchsteilnehmer buchstäblich fünfe grade sein lassen, wenn es um die eigenen politischen Ansichten geht. Sie akzeptierten Argumente für ihren Standpunkt auch dann, wenn sie offenkundig grundlegende Rechenregeln verletzten (Kahan et al. 2013).

Die Homöopathie ist ein gutes Beispiel für ein schlechtes Beispiel

Der gesunde Menschenverstand lässt sich nicht etwa nur durch unsere politischen Orientierungen außer Kraft setzen. In meinen Lehrveranstaltungen verwende ich oft das Thema „Homöopathie“, um zu demonstrieren, wie leicht sich intelligente Menschen auf hanebüchene Thesen versteifen. Ich wähle dieses Thema aus zwei Gründen:

    1. Alles deutet darauf hin, dass an der Homöopathie “nix dran” ist. Ihre naturwissenschaftliche Anfangsplausibilität geht gegen 0. Und methodisch einwandfreie, empirische Studien generieren in etwa die Daten, die man erwarten würde, wenn man ein Placebo mit einem anderen vergleicht. Der gesunde Menschenverstand gebietet also, die Homöopathie abzulehnen.
    2. Viele, teilweise ziemlich intelligente Menschen glauben dennoch an die Homöopathie.

Die Konstellation aus 1. und 2. sorgt dafür, dass sich Diskussionen über das Für und Wider der Homöopathie regelmäßig in ein logisches Gruselkabinett verwandeln. Intelligente Homöopathie-Befürworter bringen Argumente vor, die offenkundig an den Haaren herbeigezogen sind. Sie schlussfolgern auf eine Art und Weise, die sie in anderen Kontexten selbst ablehnen würden, weil sie dem gesunden Menschenverstand so eklatant zuwiderlaufen. Ich möchte zur Illustration nur ein Beispiel anfügen, das vom Journalisten Jens Jessen stammt – immerhin Feuilleton-Chef emeritus der renommierten Wochenzeitung DIE ZEIT. Er schreibt:

„Aus dem Umstand, dass sich etwas nicht erklären oder mit gegenwärtigen Methoden nicht nachweisen lässt, folgt keineswegs, dass es nicht existiert. Gell, meine Herren Schulmediziner? Einen solchen Schluss lässt auch die strenge Erkenntnistheorie nicht zu. Die gleiche Skepsis, die gegen die Homöopathie spricht, lässt sich auch zu ihren Gunsten bemühen.“

Dieses Argument ist eine Sünde gegen den gesunden Menschenverstand – und zwar keine geringe. Um das zu sehen, muss man das Wort „Homöopathie“ nur durch das Wort „Yeti“ ersetzen, wie es der Philosoph Norbert Hörster einmal in einem anderen Zusammenhang vorgeschlagen hat. Heraus kommt:

„Die gleiche Skepsis, die gegen den Yeti spricht, lässt sich auch zu seinen Gunsten bemühen.“

Wer ein solches Argument für die Homöopathie durchgehen lässt, sollte also auch an alle anderen Dinge glauben, für die wir keine Belege haben, z.B. an den Yeti. Ich vermute allerdings, dass Jens Jessen nicht an den Yeti glaubt. Denn bei diesem Thema würde sich sein gesunder Menschenverstand sicherlich wieder einschalten.

Emotion versus Verstand

Genau das ist der Punkt: Die Homöopathie hat es geschafft, viele intelligente Menschen emotional an sich zu binden. Und die sind bisweilen bereit, ziemlich verrückte Sachen zu sagen, um sie zu verteidigen. Da soll nochmal einer sagen, die Homöopathie sei zu nichts in der Lage. Auch wenn ihre Arzneimittel keinerlei pharmakologische Effekte haben, ist die Homöopathie auf eine andere Weise extrem wirksam: Sie schafft es, den gesunden Menschenverstand außer Kraft zu setzen. Auch bei Ihnen?


Zum Autor: Nikil Mukerji hat Philosophie und Wirtschaftswissenschaften studiert. Heute ist er Geschäftsführer des Executive-Studiengangs Philosophie Politik Wirtschaft (PPW) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zudem arbeitet er als freiberuflicher Unternehmens- und Politikberater für das Institut für Argumentation in München. In seinem neuen Buch erklärt er – anschaulich und lebensnah – die zentralen Regeln vernünftigen Denkens: Die 10 Gebote des gesunden Menschenverstands (Springer, 2016).


Mehr dazu:
> auf dieser Webseite:  “Warum man der Homöopathie so gerne Glauben schenkt
> bei Spektrum der Wissenschaft / Gehirn und Geist:  “Die Denkfehler der Homöopathie”


Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Top