Einwand: Homöopathie ist doch besonders zur Selbstbehandlung geeignet!

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Wirklich?

Das Bild zeigt eine handelsübliche homöopathische Taschenapotheke mit 30 verschiedenen Globuli-Röhrchen
Hier fehlt was: Ein Würfel für die Mittelauswahl…

In der Apotheke werden allerlei Globuli rezeptfrei angeboten. Sie werden von den Herstellern auch kräftig mit den Attributen „sanft und natürlich“ beworben. Vor allem zur „einfachen und nebenwirkungsfreien“ Selbstbehandlung wird immer wieder geraten. Es gibt viele Bücher zum Thema (Ratgeber, „Quickfinder“) und ein Großteil der homöopathischen Mittel wird aufgrund von Mund-zu-Mund-Propaganda empfohlen („Bei meiner Erkältung hat mir letztens super Mittel XY geholfen, probiere das doch auch mal“). Dies haben die Ergebnisse einer Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 2014 klar bestätigt. Nach den dortigen Angaben benennen 67 Prozent der Befragten als „Weg zu homöopathischen Arzneimitteln“ den „Rat von Freunden, Familie und Bekannten“.

Bei alledem wissen die Konsumenten nicht (und Hersteller, Verkäufer und selbst die Homöopathen sagen es ihnen nicht): Es gibt wenig, das Hahnemanns Methode mehr widerspricht als die Selbstbehandlung mit Globuli.

Was sagt die homöopathische Lehre?

Wie auch schon in anderem Zusammenhang ausgeführt, befasst sich die Methode Hahnemanns nicht mit Krankheiten, sondern mit Symptomen. Die Methode beruht darauf, dass für ein mit großer Sorgfalt erstelltes Symptombild des Patienten aus den Repertorien, also den Verzeichnissen, in denen die Symptombilder den homöopathischen Mitteln zugeordnet werden, das richtige Mittel herausgesucht wird – all dies ist die Aufgabe des Arztes, des erfahrenen Heilkünstlers. Nebenbei gesagt, festzulegen ist ein Mittel mit einem einzigen Urstoff. Mittel, die mit mehreren Urstoffen hergestellt wurden, sogenannte Komplexmittel, lehnte Hahnemann ohne Wenn und Aber ab und die meisten klassischen Homöopathen tun das auch heute noch.

Der Weg zum Symptombild führt dabei über die homöopathische Anamnese, das bekannte therapeutische Gespräch, bei dem in möglichst hoher Differenzierung alle, auch noch die allergeringsten Befindlichkeiten vom Therapeuten aufgezeichnet und zu einem geschlossenen Symptombild verdichtet werden sollen. Was aus Sicht der Homöopathie allein der Feststellung des „Symptomenbündels“ des Patienten dient (also selbst keinen therapeutischen SInn hat!), das dann maßgeblich für die Auswahl des individuellen Mittels ist. Es ist einsichtig, dass es hierzu des „erfahrenen Therapeuten“ bedarf, jedenfalls jemand, der eingehend mit Hahnemanns Methode auch in der Praxis vertraut ist. Das Organon, die Bibel der Homöopathen, sagt beispielsweise dazu:

„Der vorurtheillose Beobachter […] nimmt, auch wenn er der scharfsinnigste ist, an jeder einzelnen Krankheit nichts, als äußerlich durch die Sinne erkennbare Veränderungen im Befinden des Leibes und der Seele, Krankheitszeichen, Zufälle, Symptome wahr, das ist, Abweichungen vom gesunden, ehemaligen Zustande des jetzt Kranken, die dieser selbst fühlt, die die Umstehenden an ihm wahrnehmen, und die der Arzt an ihm beobachtet. Alle diese wahrnehmbaren Zeichen repräsentiren die Krankheit in ihrem ganzen Umfange, das ist, sie bilden zusammen die wahre und einzig denkbare Gestalt der Krankheit.“ (§ 6 Organon, nur Symptome sind wahrnehmbar, nicht Krankheiten).

„Da man nun an einer Krankheit, von welcher keine sie offenbar veranlassende oder unterhaltende Ursache (causa occasionalis) zu entfernen ist sonst nichts wahrnehmen kann, als die Krankheits-Zeichen, so müssen […] es auch einzig die Symptome sein, durch welche die Krankheit die, zu ihrer Hülfe geeignete Arznei fordert und auf dieselbe hinweisen kann…so muß, mit einem Worte, die Gesammtheit der Symptome für den Heilkünstler das Hauptsächlichste, ja Einzige sein, was er an jedem Krankheitsfalle zu erkennen und durch seine Kunst hinwegzunehmen hat, damit die Krankheit geheilt und in Gesundheit verwandelt werde.“ (§ 7 Organon, das Symptombild und die Mittelfindung sind die Hauptaufgaben für den Heilkünstler).

Selbstmedikation? Diagnosen wie Schnupfen, Magenschmerzen, Kopfschmerzen, allgemeines Unwohlsein? All das ist nach Hahnemanns System undenkbar. Das Symtomenbündel ist gefragt, um zur Mittelfindung schreiten zu können! Heilkünstler an den Start!

Ein wenig Historie

Homöopathie ist einerseits strengster Dogmatismus, im Sinne von Hahnemanns „Machts nach, aber machts genau nach!“. Andererseits sind Homöopathen größtmögliche Pragmatiker.  Das war aber schon lange so – und schon lange Gegenstand der Kritik. Schon zu Hahnemanns Lebzeiten gab es Selbstmedikation und Empfehlungen dazu, hauptsächlich deshalb, weil homöopathische Ärzte dünn gesät waren und die Reisemöglichkeiten doch sehr beschränkt. Im Interesse der Verbreitung seiner Lehre hat Hahnemann das offensichtlich auch durchaus toleriert. Ende des 19. Jahrhunderts war Homöopathie tatsächlich als „Laienmedizin“ fest etabliert. Ratgeber und homöopathische Hausapotheken gab es zuhauf. Um 1890 konnte man lesen, „die Laienthätigkeit in Sachen der Homöopathie (werde) für geschichtlich gegeben, untrennbar mit letzterer verwachsen“ betrachtet. Bedeutende Homöopathen wie Hering („Heringsche Regel„) verfassten Ratgeberliteratur, Arthur Lutze unterhielt einen internationalen Vertrieb von homöopathischen Hausapotheken in beträchtlichem Umfang (Baschin, Die Geschichte der Selbstmedikation in der Homöopathie, Quellen und Studien zur Homöopathiegeschichte, Band 17, Essen 2012).

Diese historischen Reminiszenzen bewirken aber natürlich keine Legitimation der Selbstbehandlung: Kein Wort hat Hahnemann selbst an seinem Lehrgebäude geändert, niemand anders hat je Hand daran gelegt, nach wie vor gelten Hahnemanns Schriften als unantastbar bis zum letzten Buchstaben. Und das Gebot, die Anwendung der Homöopathie dem „ächten Heilkünstler“ vorzubehalten, ergibt sich aus der homöopathischen Lehre selbst ja auch durchaus zwingend. Wie man diese kognitive Dissonanz aushält (die ja eigentlich die klassischen Homöopathen mit der Forderung auf den Plan rufen müsste, den Freiverkauf von Homöopathika zu untersagen), ist eine schon fast bewundernswerte Leistung… oder vielleicht doch unhinterfragte „Gewohnheit“?

Vier Fünftel der verkauften Homöopathika werden „Over the counter“ verkauft

Wie kann das sein? Ohne Rücksicht auf Hahnemann, dessen Lehre gleichwohl sakrosankt ist, werden heute Globuli ohne homöopathische Anamnese käuflich erworben wie Bonbons (guter Vergleich eigentlich …), Krankheitsbezeichnungen statt Symptombilder als Indikationen für die Gabe von Globuli verwendet, werden Komplexmittel nach Herstellerempfehlung (besser: Herstellerwerbung), nach Rat des Nachbarn oder eigenem Gusto eingenommen – und das wird dann hier und da auch noch als Fortschritt der Methode verkauft. Von einer indikationsbezogenen „Beratung“ in Apotheken beim Globuli-Kauf gar nicht zu reden. Jedoch ist dieser Pseudo-Fortschritt deshalb kein echter, weil er nicht mit systematischer Kritik, mit einer Erweiterung des Erkenntnishorizontes, mit einem logischen Weiterbau unter Verwerfung als alter, als unrichtig erkannter und unter Hinzunahme als neuer, als richtig erkannter Erkenntnisse verbunden ist. Selbst“medikation“, Behandlung auf Krankheits- statt auf Symptombilder und Komplexmittel sind – neben anderen Dingen – nur Verwässerungen von Hahnemanns Methode, die zudem auch noch mehr Ungereimtheiten erzeugen, als dieser ohnehin schon innewohnen. Und all das, ohne dass an Hahnemanns „heiligen Schriften“ irgendjemand jemals auch nur einen Buchstaben geändert hätte…

Wo bleibt die „individuelle Methode„, die ja gemeinhin gerade als Markenzeichen der Homöopathie gilt, wenn Frau Müller für ihre Magenbeschwerden einfach Globuli in der Apotheke kaufen kann? Vielleicht würde Frau Müller einmal ein Blick in eines der großen Repertorien helfen, mit dem Versuch, unter „Magenbeschwerden“ das richtige Globuli herauszufinden? Nun – vielleicht besser nicht. Die Einträge mit Magenbeschwerden sind Legion – kombiniert jedoch mit einer Unzahl irgendwann einmal bei einer Arzneimittelprüfung „gleichzeitig“ aufgetretener Symptome. Natürlich würde dann Verwirrung bis Ratlosigkeit herrschen, weil so viele Mittel passen könnten, oder gar keines. Und so wird Frau Müller es wohl aufgeben … Doch dann wird es noch schwieriger, als es eh schon ist. Denn dann beginnt eigentlich das Raten, das jedoch nachträglich rationalisiert wird („Letztes Mal haben ja auch die Chamomilla so toll geholfen, also probiere ich es noch mal mit denen“, „Bei Frau Maier hat Mittel XYZ geholfen, dann nehme ich mal das“, „Ich kenne keines der angegeben Mittel, ich entscheide mich nach meinem Gefühl“, „ich wähle intuitiv“). Den „Fehler“, dass selbst „ächte Heilkünstler“ offenbar aus Gewohnheit und Instinkt häufig auf „bewährte Mittel“ statt genauer Repertorisierung zurückgreifen, geißelte Hahnemann übrigens auch selbst mit starken Worten. Wann immer nun anschließend eine Verbesserung auftritt, unterliegt Frau Müller dem post-hoc-ergo-procter-hoc-Fehlschluss– und nicht den Wirkungen der gewählten homöopathischen Arznei. Und sie unterliegt damit einer ganz natürlichen menschlichen Wahrnehmungsstörung, die sehr schwer erkennbar ist – und noch viel schwerer zu akzeptieren, weil wir evolutionär auf „schnelles Denken“ auf der Grundlage von Augenscheinlichkeiten programmiert sind. Nur eines hat Frau Müller nicht bekommen: eine wirksame medizinische Behandlung.


Autoren: Udo Endruscheit und Dr. med. Natalie Grams

Bild von Jasmin777 auf Pixabay

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