Einwand: Potenziert bedeutet doch stärker!?!

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Das Bild zeigt einen teilweise von Wasserrosen bedeckten Teich und illustriert damit die nachfolgende, den Artikel einleitende Frage.Auf einem See wachsen Seerosen, deren Fläche sich jeden Tag verzehnfacht. Nach neun Tagen ist der See völlig zugewachsen. Wie viel seiner Fläche ist nach acht Tagen bedeckt? (Lösung am Ende)

Was hat das mit Homöopathie zu tun? Eine ganze Menge. Ein zentrales Merkmal der homöopathischen Mittel ist deren Potenzierung, also die mehrfache Verdünnung der Ausgangssubstanzen. Dahinter steht die vorwissenschaftliche Vorstellung, dass ein Stoff umso stärker wirkt, je mehr er verdünnt ist. In jedem Schritt wird die Ursubstanz, in der der verwendete Stoff gelöst wurde, mit dem Lösungsmittel (destilliertes Wasser oder Ethanol) in einem vorgeschriebenen Verfahren verdünnt und verschüttelt.

Die Abkürzung D (lateinisch decem = zehn) bei homöopathischen Mitteln verweist dabei auf die zehnfache Verdünnung bei jedem Schritt, die Abkürzung C (lateinisch centum = hundert) auf die hundertfache. Die Zahl hinter D oder C gibt die Anzahl der Verdünnungsschritte an. D6 – eine häufig verwendete „Potenz“ – bedeutet also ein Teil Ursubstanz auf eine Million Teile Lösungsmittel.

Übersetzt man dies in das Volumen von Flüssigkeiten, so ergibt sich ein Verhältnis von einem Milliliter – das ist in etwa die Menge, die in einem ausgeleerten Wasserglas wieder zusammenläuft – auf 1.000 Liter, was etwa sieben vollen Badewannen entspricht. Damit sind noch nachweisbare Anteile der Ausgangssubstanz in der Lösung enthalten. Ob diese allerdings physiologisch wirksam sind, darf zu Recht bezweifelt werden, sehr zurückhaltend ausgedrückt. D12 ist nun nicht eine doppelte Verdünnung wie D6 – und schon gar nicht die doppelte Wirksamkeit -, sondern die eine Million mal höhere Verdünnung. Auch bei kleinen Unterschieden der Zahlen wird gerne vergessen, dass etwa D7 die zehnfache Verdünnung von D6 darstellt, D8 die hundertfache.

Wollen wir nun ein Mittel mit der Potenz D12 herstellen, nehmen wir einen Tropfen aus einer unserer sieben Badewannen mit D6 und verteilen ihn gleichmäßig auf weitere sieben Wannen mit Wasser. Falls diese Flüssigkeit nicht als Tropfen vermarktet wird – für die als Lösungsmittel Alkohol verwendet wird und die vor der Einnahme wiederum mit Wasser verdünnt werden -, versprühen wir sie anschließend mit dem Faktor 1 zu 100 (0,1 Gramm Lösung auf 10 Gramm Globuli) auf Zuckerkügelchen und lassen diese trocknen. Damit wäre unser homöopathisches Mittel D12 fertig zum Verkauf.

Das Problem des Begriffs „Potenzierung“ ist, dass „Potenz“ in der Umgangssprache wie in der Wissenschaft eine andere Bedeutung als in der Homöopathie hat, nämlich vom lateinischen Wort potentia „Macht, Kraft, Vermögen, Fähigkeit“. In der Pharmakologie etwa bezeichnet die Potenz eines Stoffes seine Wirkstärke, Substanzen höherer Potenz wirken in geringerer Konzentration als solche mit niedriger Potenz. In der Homöopathie ist die Bedeutung genau umgekehrt; je höher potenziert, desto weniger der Ausgangssubstanz ist enthalten – bei D23 fällt die statistische Wahrscheinlichkeit der Anwesenheit eines einzigen  Moleküls auf einen Wert unter Null (durch die Streuung in der Praxis kann dieser Wert schon weit früher im Potenzierungsvorgang erreicht sein).

Für D23 würde man übrigens eine Wassermenge zum Verdünnen eines Gramms Ursubstanz benötigen, die etwa dem Inhalt des Pazifischen und Indischen Ozeans zusammen entspricht (für D24 dann gleich schon wieder das Zehnfache dieser Menge – und so weiter). In der Praxis werden allerdings vor jedem Verdünnungsschritt einfach neun Zehntel der Lösung weggeschüttet.

Potenzierung bedeutet also auf keinen Fall, dass die Mittel mit höherer Verdünnung wirksamer, „potenter“ sind, sondern dass sie im Gegenteil von Stufe zu Stufe um den Faktor Zehn (oder gar Hundert) weniger Wirkstoff enthalten und deshalb nach allen wissenschaftlichen Kriterien keine pharmakologische Wirkung haben können. (Und warum bei der Potenzierung auch keine „Energie“ entsteht, lesen Sie hier.)

Exponentielles Wachstum oder exponentieller Schwund sind Vorgänge, die man intuitiv nur schwer erfassen kann. Die Verdoppelung (2n …) oder Verzehnfachung (10n …) bei jedem einzelnen Schritt, beziehungsweise eine exponentielle Abnahme wie in der homöopathischen Verdünnung 10n oder gar 100n , nach jedem Schritt ist nur noch ein Zehntel des Ausgangsstoffs vorhanden) können wir uns kaum vorstellen. Wir irren uns praktisch immer bei solchen nichtlinearen Entwicklungen, wenn wir die Ergebnisse auch nur nach wenigen Schritten schätzen sollen. Im Alltag begegnen wir diesen Verläufen etwa beim Zinseszins: Die Entwicklung eines Guthabens, das jährlich einschließlich der bisher aufgelaufenen Zinsen verzinst wird, schätzen wir auf längere Zeit immer zu niedrig ein: Aus 1.000 € werden bei einem Zinssatz von 5 % in 50 Jahren 11.467,40 €. Würden wir nur den jährlichen Zins von 50 € ohne den Zinseszinseffekt berücksichtigen, wären es nur 3.500 €.

Exponentiell ist also eine Funktion, bei der in jedem Schritt eine prozentuale Veränderung im Vergleich zum vorherigen Bestand erfolgt. Jede Änderung wirkt sich auf die folgenden aus.

Es dauert zum Beispiel nur neun Tage, eine Milliarde Euro auf einen Euro zu dezimieren, wenn das Vermögen jeden Tag nur noch ein Zehntel des Werts des Vortages hat. Solch ein Wertverlust kommt bei einer Hyperinflation vor, wo das Geld täglich weniger Kaufkraft besitzt.

Ebenso schwer fällt es Menschen, sich sehr große oder sehr kleine Zahlen und Mengen vorzustellen. So wird etwa gerne Million und Milliarde verwechselt, wobei die letztere eintausend Mal größer ist. Beispiel: Es dauert fast drei Jahre, eine Milliarde Euro anzusammeln, wenn man jeden Tag eine Million Euro bekommt. Für eine Billion (1012) müsste man den Zeitraum übrigens mit 1.000 multiplizieren. Vor 3.000 Jahren lebte der biblische König David, man müsste also seit seiner Geburt täglich eine Million Euro erhalten haben. Noch größere oder kleinere Zahlen können wir praktisch nicht mehr intuitiv erfassen, auch deshalb, weil sie in unserer alltäglichen Wahrnehmung nicht vorkommen.


P.S.: Die Lösung der Frage am Anfang lautet : Am achten Tag ist die Wasserfläche zu einem Zehntel mit Seerosen bedeckt, am siebten zu einem Prozent.


Mehr zur Potenzierung auch auf Homöopedia: http://www.homöopedia.eu/index.php/Artikel:Potenzieren

Zum Weiterlesen auch: Homöopathie – Wunderglaube

Autorin: Dr. Susanne Kretschmann (Dipl.-Psych.)

Bild von Ganossi auf Pixabay

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