„Erstverschlimmerung“ ist ein häufiger Begriff im homöopathischen Sprachgebrauch. Er bezeichnet ein homöopathisches „Phänomen“, das oft als „Beweis“ für eine „Wirkung“ von homöopathischen Mitteln herangezogen wird, als Zeichen, dass der Körper mit der „Selbstheilung“ begonnen habe. Über die diversen Interpretationen kann man sich in gut 76.400 deutschsprachigen Google-Treffern (abgerufen 29.08.2021) informieren.
Nicht zuletzt fungiert die „Erstverschlimmerung“ auch als klassisches „Alibi“, wenn die Homöopathie eben keine „schnelle, sanfte, dauerhafte Wiederherstellung der Gesundheit oder Hebung und Vernichtung der Krankheit in ihrem ganzen Umfange auf dem kürzesten, zuverlässigsten, unnachteiligsten Wege“ erzeugt, wie es Hahnemann im Paragrafen 2 seines „Organon“ zum Ideal seiner Heilmethode erklärte.
Ist die „Erstverschlimmerung“ ein Teil von Hahnemanns Lehre? Und wenn ja, in welchem Zusammenhang und mit welcher Bedeutungszuschreibung? Es lohnt einen Blick darauf, was Hahnemann in seiner sechsten und letzten Auflage des „Organon“ dazu gesagt hat. Begeben wir uns auf eine kleine Reise durch seine Gedankenwelt, wobei wir an Originaltexten nicht vorbekommen:
Indessen giebt es selten ein, auch anscheinend passend gewähltes, homöopathisches Arzneimittel, welches, vorzüglich in zu wenig verkleinerter Gabe, nicht eine, wenigstens kleine, ungewohnte Beschwerde, ein kleines, neues Symptom während seiner Wirkungsdauer bei sehr reizbaren und feinfühlenden Kranken, zuwege bringen sollte, weil es fast unmöglich ist, daß Arznei und Krankheit in ihren Symptomen einander so genau decken sollten, wie zwei Triangel von gleichen Winkeln und gleichen Seilen. Aber diese (im guten Falle) unbedeutende Abweichung, wird von der eignen Kraftthätigkeit (Autocratie) des lebenden Organisms leicht verwischt und Kranken von nicht übermäßiger Zartheit nicht einmal bemerkbar; die Herstellung geht dennoch vorwärts zum Ziele der Genesung, wenn sie nicht durch fremdartig arzneiliche Einflüsse auf den Kranken, durch Fehler in der Lebensordnung, oder durch Leidenschaften gehindert wird. (156 Organon)
(Interessant, dass Hahnemann hier im letzten Halbsatz gleich wieder eine Immunisierung gegen ein „Nichtfortschreiten der Genesung“ einbaut – siehe § 260 Organon.)
Hier erklärt Hahnemann, dass es in der Praxis eigentlich kaum bis nie ein wirklich passgenau „einziges Mittel“ gibt, dessen Arzneimittelbild sich hundertprozentig auf das „Symptomenbündel“ des Patienten / der Patientin bezieht. Der nicht passende „Rest“ des Arzneimittelbildes, der nicht auf ein „Symptom“, einen Bestandteil des „Patientenbildes“ trifft, löst nach der Hahnemannschen Lehre folgerichtig (denn keine homöopathische Gabe bleibt nach der Lehre folgenlos) einen unerwünschten Effekt aus. Aber wie Hahnemann selbst schreibt, ist das eine in aller Regel zu vernachlässigende Marginalie, oft gar außerhalb des Wahrnehmungsvermögens. Außer, jemand vertut sich so richtig mit der Mittelwahl – wir kommen im Fazit darauf zurück.
So gewiß es aber auch ist, daß ein homöopathisch gewähltes Heilmittel, seiner Angemessenheit und der Kleinheit der Gabe wegen, ohne Lautwerdung seiner übrigen, unhomöopathischen Symptome, das ist, ohne Erregung neuer, bedeutender Beschwerden, die ihm analoge, acute Krankheit ruhig aufhebt und vernichtet, so pflegt es doch (aber ebenfalls nur bei nicht gehörig verkleinerter Gabe) gleich nach der Einnahme – in der ersten, oder den ersten Stunden – eine Art kleiner Verschlimmerung zu bewirken (bei etwas zu großen Gaben aber eine mehrere Stunden dauernde), welche so viel Aehnlichkeit mil der ursprünglicben Krankheit hat, daß sie dem Kranken eine Verschlimmerung seines eignen Uebels zu sein scheint. Sie ist aber in der That nichts anderes, als eine, das ursprüngliche Uebel etwas an Stärke übersteigende, höchst ähnliche Arzneikrankheit. (§ 157 Organon)
Je kleiner die Gabe des homöopathischen Mittels, desto kleiner und kürzer ist auch bei Behandlung acuter Krankheiten, diese anscheinende Krankheits-Erhöhung in den ersten Stunden. (§ 159 Organon)
Hier kommt Hahnemanns Idee von der Kunstkrankheit ins Spiel, die vom homöopathischen Similium (dem „Ähnlichen“) ausgelöst werden und die vorhandene Krankheit „auslöschen“ soll. Diese soll also kurzzeitig (!), gleich nach der Einnahme oder allenfalls bis zu mehreren Stunden, eine „gefühlte“ Verschlimmerung der Ausgangskrankheit bewirken, weil sie ihr „so ähnlich“ sei. Nun ist das schon eine ziemliche Verrenkung, über die man trefflich diskutieren könnte (und das wurde auch längst getan). Was die „Erstverschlimmerung“ angeht, ist hier auch nicht mehr herauszulesen als ein minimales Zugeständnis, das nicht als das gelten kann, was durchweg als „homöopathische Erstverschlimmerung“, als „typisch für die Homöopathie“ gehandelt wird. Hat ein/e Patient/in am Folgetag (oder auch am Abend nach morgendlicher Mittelgabe) stärkere Beschwerden, trifft diese Erklärung schon nicht mehr zu. Wobei in der Praxis mit der „Erstverschlimmerung“ durchaus über Tage hinweg, wenn nicht noch länger, der Patient „bei der Stange gehalten“ wird.
Den aufmerksamen LeserInnen wird zudem auch nicht entgangen sein, dass Hahnemann im § 156 das „neue Symptom“ als ursächlich für eine „Verschlimmerung“ dingfest macht, also das „Delta“ zwischen dem passenden und dem nicht passenden Anteil der homöopathischen Arznei – dagegen im § 157 auf eine das ursprüngliche Uebel etwas an Stärke übersteigende, höchst ähnliche Arzneikrankheit rekurriert. Ein kleiner, aber feiner Unterschied!
In den folgenden Paragrafen führt Hahnemann u.a. allerlei Analogieschlüsse an, mit denen er die Unwissenheit der damaligen Allopathen über all diese interessanten Dinge belegen will. Dann aber kommt § 161 Organon:
Wenn ich die sogenannte homöopathische Verschlimmerung, oder vielmehr die, die Symptome der ursprünglichen Krankheit in etwas zu erhöhen scheinende Erstwirkung der homöopathischen Arznei, hier auf die erste oder auf die ersten Stunden setze, so ist dieß allerdings bei den mehr acuten, seit Kurzem entstandenen Uebeln der Fall; wo aber Arzneien von langer Wirkungsdauer ein altes oder sehr aItes Siechthum zu bekämpfen haben, da dürfen keine dergleichen, anscheinende Erhöhungen der ursprünglichen Krankheit, während des Laufes der Cur sich zeigen und zeigen sich auch nicht, wenn die treffend gewählte Arznei in gehörig kleinen, nur allmälig erhöheten Gaben, jedesmal durch neue Dynamisirung (§. 247) um etwas modificirt wird dergleichen Erhöhungen der ursprünglichen Symptome der chronischen Krankheit, können dann nur zu Ende solcher Curen zum Vorscheine kommen, wenn die Heilung fast oder gänzlich vollendet ist.
Hier nun führt Hahnemann die seit seinen späteren Jahren obligatorische Unterscheidung zwischen den akuten und den chronischen Erkrankungen ein (die ihn ja auch schon auf seinen Irrweg der Miasmen-Theorie geführt hatte). Was er hier verlautbart, hat nun überhaupt nichts mehr mit der als so typisch und „beweisend“ herumgereichten „homöopathischen Erstverschlimmerung“ zu tun. Im Gegenteil, bei der Behandlung chronischer Krankheiten mit wiederholten (was er auch erst nicht wollte), aber „gehörig kleinen“ (höher potenzierten) Gaben dürfe es, glauben wir ihm, allenfalls eine Art „Letztverschlimmerung“ geben. Niemand kann sich also auf Hahnemann berufen, kommt es bei einer chronischen Erkrankung zu einer „Erstverschlimmerung“ nach dem Beginn einer homöopathischen Mittelgabe.
Kleiner Exkurs
Eine Zwischenüberlegung: Hätte Hahnemann mit Blick auf sein Konzept der Kunstkrankheit nicht dem Gleichheits- statt dem Ähnlichkeitsprinzip den Vorrang geben müssen? Wie man seinen eigenen Worten entnehmen kann, wäre doch ein Gleichheitsprinzip weitaus geeigneter gewesen, eine passgenaue „Kunstkrankheit“ hervorzurufen, bei der eine „Lücke“, aus der eine Erstverschlimmerung entspringen kann, gar nicht vorkommt? Warum ließ er dies nicht einmal als Ideal oder als Möglichkeit zu? Aber ganz im Gegenteil. In der 6. Auflage des Organon erteilt er der „Gleichheit“ eine klare Absage:
Das Heilen-Wollen durch eine ganz gleiche Krankheits-Potenz (per idem) widerspricht allem gesunden Menschenverstande und daher auch aller Erfahrung“. (Anmerkung zu § 56 des Organon)
Man wird wohl im Verzicht auf Gleichheit und in der Bevorzugung von Ähnlichkeit eine aus Hahnemanns Sicht durchaus pragmatische Entscheidung sehen müssen. Denn: Gleichheit ist praktisch nicht herstellbar (außer um den Preis von Ungenauigkeit oder Unpraktikabilität). Diesem Vorwurf hätte er sich wohl sofort ausgesetzt gesehen. Und nicht-lineare Krankheitsverläufe nach Globuligabe („Erstverschlimmerungen“) können durch das „Delta“ zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit auch gut erklärt werden. Ohne Zweifel suchte Hahnemann nach solchen Erklärungen im Interesse einer „Geschlossenheit“ seiner Lehre, denn die Praxis seiner Kuren wird danach verlangt haben. Der Preis dafür ist: Das Konstrukt „Kunstkrankheit“ ist beim Ähnlichkeitsprinzip schwächer als beim Gleichheitsprinzip, die Erklärungsmöglichkeit für einen nicht-linearen Krankheitsverlauf dagegen stärker. Dies nebenbei.
Das Fazit?
Wir stellen fest: Hahnemann selbst hat im „Organon“ nichts niedergelegt, was man als eine dem üblichen Sprachgebrauch entsprechende „typische Erstverschlimmerung“ bei Aufnahme einer homöopathischen Behandlung ansehen könnte. Wir sehen hier einmal mehr im Begriff der „Erstverschlimmerung“ etwas, das sich im Laufe der Jahrzehnte – Jahrhunderte! – zu einem nicht mehr hinterfragten homöopathischen Narrativ entwickelt hat.
Als Lohn unserer Mühe bleiben aber einige ganz wesentliche Schlussfolgerungen.
Nimmt man all diese Hahnemannschen Erklärungen und Postulate ernst, muss die Gabe von Homöopathika per se eine hochgefährliche Angelegenheit sein. Löst schon eine wenig „danebenliegende“ Gabe eines nicht genau passenden Homöopathikums etwas aus, was sich gesondert neben der „Besserung der Hauptkrankheit“ als symptomenauslösend bemerkbar macht, was müsste dann erst geschehen, wenn jemand zu einem völlig falschen Mittel greift, das nicht durch Anamnese und Repertorisierung, sondern aufgrund von irgendjemandes „Empfehlung“ (und sei es einer „Beratung“ in der Apotheke) eingenommen wurde? Und mangels Anamnese und Repertorisierung gar nicht mit dem individuellen Symptombündel übereinstimmen kann?
Das müsste logischerweise ständig zu schweren und schwersten Krankheitssymptomen infolge einer Selbstmedikation mit dem Homöopathikum XYZ – und eben auch bei einem Fehlgriff des/der Therapeut/in – führen. Und eben darum heben Homöopathen immer wieder, z.B. anlässlich der 1023-Aktionen von Homöopathiekritikern — hervor, so etwas sei keine „Therapie“, sondern eine „homöopathische Arzneimittelprüfung am Gesunden„. In der Tat! Die aber stets und immer wieder ohne Effekt bleibt. Was ein mehr als bezeichnendes Bild auf die Versicherung der Homöopathen wirft, es könne eben dauern, bis man das „einzig richtige“ Mittel gefunden habe…
Wenn diese homöopathischen Thesen nur im Ansatz richtig wären, müssten die Einnahme von Homöopathika per Selbstmedikation und der Apothekenvertrieb „over the counter“ sofort untersagt werden – und die Risiken therapeutisch ausgeübter Homöopathie wäre wohl keine Berufshaftpflichtversicherung abzudecken bereit.
So hängt das eine mit dem anderen bei der Homöopathie auf erstaunliche Weise zusammen – im Sinne einer Inkonsistenz, einer wechselseitigen Widerlegung ihrer Postulate. Alle Wege führen nach Rom – alle Wege der Logik zur (Selbst-)Widerlegung der Homöopathie. So ist sie nicht nur ein Ärgernis innerhalb der Medizin, sondern auch eine Art intellektueller Zumutung. Nur gut, dass das alles reine Fantasieprodukte sind – nicht auszudenken, die Homöopathen hätten Recht!
Wir empfehlen die im Text enthaltenen Links zur Vertiefung und Verdeutlichung des Themas.
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