Der Twitterer “Skeptic Saturnist” veröffentlichte vor einiger Zeit einen pointierten Thread zu seinem ärztlichen Selbstverständnis und seinem Verhältnis zu Pseudomedizin / Homöopathie. Unserem Vorschlag, hieraus einen Gastbeitrag für das INH zu machen, ist er freundlicherweise gefolgt. Wir freuen uns sehr, diesen Beitrag nachstehend veröffentlichen zu dürfen. Wir verstehen diesen Beitrag entsprechend unserer eigenen Zielsetzung vor allem als Appell für eine insgesamt bessere patientenzentrierte Medizin, von der die Pseudomedizinkritik ein Teil und die wissenschaftlich fundierte Kritik an der Homöopathie davon wiederum ein wichtiger – weil prototypischer – Aspekt ist.
Die Ärzteschaft ist der vielleicht wichtigste Schlüssel, über den der nach wie vor verbreiteten Fehlinformation der Bevölkerung zur Homöopathie wirksam entgegengewirkt werden kann. Wer sonst als homöopathisch tätige Ärzte (und Krankenkassen) stützen und befördern falsche Glaubwürdigkeit der Scheinmethode Homöopathie in der täglichen Praxis? Deshalb sind wir froh über die Entwicklungen, die bereits 10 von 17 Landesärztekammern dazu veranlasst haben, Homöopathie aus ihren Weiterbildungsordnungen zu streichen – ebenso über die Bestrebungen, auch z.B. die ärztliche Approbationsordnung auf einen konsequent wissenschaftsbasierten Stand zu bringen. Dass sich auch individuelle Vertreter der Ärzteschaft, wie unser Gastautor, persönlich hierfür engagieren und positionieren, freut uns natürlich sehr.
Über seine Twitter-Identität “Skeptic Saturnist” hinaus möchte er anonym bleiben, eine Bitte, der wir selbstverständlich gern nachkommen. Sein Klarname und seine Mailadresse sind dem INH bekannt. Hoffen wir auf Zeiten, in denen es keine guten Gründe mehr gibt, als Kritiker von Pseudomedizin / Homöopathie seine Identität schützen zu müssen. Wir bedanken uns sehr herzlich bei “Skeptic Saturnist” und empfehlen, ihm auf Twitter zu folgen!
Ich bin Arzt – und stehe dazu!
Ich stehe dazu, dass ich Medizin betreibe, keine “Schulmedizin”, das ist nämlich ein Ende des 19. Jahrhunderts in abwertender Absicht von Homöopathen eingeführter Begriff, der auch heute noch dazu dient, die Standards der Wissenschaft zu diskreditieren, nicht zuletzt, um sie selbst nicht erfüllen zu müssen.
Es gibt viele Strategien von HeilpraktikerInnen, HomöopathInnen und sonstigen paramedizinisch Tätigen, um die wissenschaftliche Medizin zu verunglimpfen und eine falsche Balance herstellen zu wollen, die die “Alternative” attraktiv erscheinen lassen soll.
Viele dieser Strategien entsprechen logischen Fehlschlüssen und Denkfehlern. Da wären zum einen die vielen Strohmannargumente. Hierbei werden Eigenschaften und Prinzipien der wissenschaftsbasierten Medizin bewusst falsch dargestellt, um sie leichter kritisieren zu können.
Strohmänner
Es heißt zum Beispiel, ÄrztInnen würden nur Symptome behandeln, ohne sich für die Ursache zu interessieren. Dabei gibt es in der Medizin mit der Pathologie und Pathophysiologie eigene Fachbereiche, die sich einzig und allein mit der Krankheitsentstehung beschäftigen.
Hier setzt auch ein weiteres Strohmannargument an, das vielfach so tut, als gehe es in der wissenschaftlichen Medizin nur um „synthetische Arzneimittel“ oder „invasive Eingriffe“, es wird das Bild von der „seelenlosen Apparatemedizin“ gezeichnet. Doch entgegen den pseudomedizinischen Behauptungen beinhalten die Leitlinien für die meisten Krankheitsbilder neben der Ursachenabklärung als ersten Schritt der Behandlung eine Änderung von Lebensgewohnheiten und -bedingungen, die einer Heilung oder Linderung im Wege stehen. Das wird jeder / jede der Evidenz verpflichtete ÄrztIn auch umsetzen – die PatientInnen müssen das aber auch annehmen, Gesundheit ist keine Bringschuld der ÄrztInnen allein.
Bei der der obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) z.B. steht der Nikotinverzicht an erster Stelle, beim Diabetes die Verbesserung der Ernährung und auch die körperliche Bewegung tritt als Behandlungsstrategie bei vielen Krankheiten zunehmend in den Vordergrund.
Erst wenn diese nicht-pharmakologischen und nicht-interventionellen Ansatzpunkte zu kurz greifen oder es bei der Umsetzung hapert, sollten schwerere Geschütze aufgefahren werden. Und auch hier gilt: Je milder der Krankheitsverlauf, umso milder kann die Therapie ausfallen.
In dem Sinne gibt es auch keine pauschal „sanfte“ Medizin, es gibt bei einem ausgewogenen Medizinkonzept nur die passende Medizin, mal sanft, mal eingreifender.
Die Mär von der „sanften“ Medizin
Wenn dann Medikamente zum Einsatz kommen, wird jenen Präparaten der Vorzug gegeben, für die ein prognostischer Vorteil erwiesen ist. Diese gar nicht selbstverständliche wissenschaftliche Auszeichnung für ein Therapieverfahren setzt den Nachweis eines Netto-Effekts voraus, einen „Überschuss“ bei der Nutzen-Risiko-Bilanz – und zwar einen, der „klinisch relevant“, also von fühlbarem Benefit für den / die PatientIn ist. Es geht also nicht nur um Blutdrucksenkung oder Zuckeranpassung auf dem Papier, sondern um einen damit verknüpften konkreten Nutzen für das Leben der PatientInnen.
Verhinderung von Herzinfarkt, Schlaganfall, Knochenbrüchen, Steigerung von Lebensqualität oder Verlängerung des Lebens sind messbar und bei gut ausgewählter Therapie auch erreichbar. Wenn also der Gefäßverschluss als „Symptom“ einer Arteriosklerose angesehen wird, dann ist dessen Verhinderung keine Schwäche oder Beschränkung der Medizin, sondern mit einem fassbaren Nutzen verbunden.
Dieser Netto-Effekt ist zwar eine Konsequenz der Behandlung von gestörten Körperfunktionen, die prinzipiell zu erwarten ist, er fällt aber je nach Krankheitsstadium und auch Wirkprinzip sehr unterschiedlich aus. So können bei einem nur leicht erhöhten Blutdruck die Nachteile eines Medikaments zunächst überwiegen und erst in höheren Stadien der Störung vom Nutzen der Therapie überholt werden. Der erhöhte Cholesterinspiegel ist zunächst keine Krankheit, sondern ein Risikofaktor. Erst wenn viele Risikofaktoren das Gesamtrisiko kritisch erhöhen oder wenn eine Folgeerkrankung auftritt, wird das Cholesterin zum Ziel einer medikamentösen Behandlung, die dann auch gefährliche Gefäßverschlüsse verhindern oder hinauszögern kann.
Muss man in diesem Zusammenhang noch erwähnen, dass die Homöopathie im Gegensatz zu alledem nur ihr „Symptombündel“ kennt, aber keinen Krankheitsbegriff, solch komplexen Zusammenhängen fernsteht und medizinische Prophylaxe ihr wesensfremd ist… ?
Whataboutism – Aber was ist mit…?
Ein anderer Schauplatz für Diskussionen ist der häufig anzutreffende Whataboutism, also der Angriff auf – angebliche oder tatsächliche – gegnerische Schwächen als Ablenkung von Kritik an eigenen Unzulänglichkeiten. Dass Antibiotikaresistenzen ein Problem darstellen, wird als Argument verwendet, um den Nutzen des gesamten infektiologischen Krankheitskonzepts zu diskreditieren, oder um wirkungslose Globuli als „wertvolle Alternative“ anzupreisen. Es ist zu einer solchen „Strategie“ nicht mehr zu sagen, als dass sie eine Form des altbekannten „Haltet den Dieb“ ist. Wie soll eine berechtigte Kritik dadurch entkräftet werden, indem man mit dem Finger auf mögliche Schwächen des Gegenübers zeigt?
Dabei gehört die Adressierung von Schwächen und Fehlentwicklungen zwingend zum wissenschaftlichen Diskurs dazu. Leider laufen wirtschaftliche Interessen zuweilen den wissenschaftlichen Zielen zuwider. Unwirksame oder risikobehaftete Präparate werden wider bessere Erkenntnisse weiter vermarktet oder wichtige Substanzen werden aus wirtschaftlichen Gründen von der einen Indikation auf eine lukrativere umgelabelt.
Objektive BeobachterInnen des Medizin- und Pharmabetriebs wie staatliche Stellen, Organe der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen oder Publikationen wie das arznei-telegramm kritisieren diese Praxis und wirken ihnen auch mit Regelungen wie dem AMNOG entgegen, so dass von einer eingeschworenen Gemeinschaft von Gesundheitswesen, Pharmaindustrie und Wissenschaft durchaus nicht die Rede sein kann.
Wäre die gleiche Qualitätskontrolle und Review-Tätigkeit bei der Homöopathie nicht durch politisch und ideologisch motivierte Ausnahmen im Arzneimittelgesetz ausgehebelt, gäbe es die Scheinmedikamente der „besonderen Therapierichtungen“ Homöopathie und Anthroposophie gar nicht – jedenfalls nicht als gesetzliche Arzneimittel, sie wären vermutlich neben Nahrungsergänzungsmitteln und Badezusatz in den Regalen der Drogerien zu finden (was übrigens wirklich eine der Planungen in einem frühen Stadium des Arzneimittelgesetzes 1978 war).
Survivorship Bias – Was wir vor uns sehen, ist das vollständige Bild, oder nicht?
Ein anderes Narrativ, das nur in der heutigen Zeit einer sehr fortgeschrittenen Medizin funktioniert, ist eine Variante des Survivorship-Bias. Hierbei beruht die Beobachtung und Einordnung einer Erkrankung oder eines Gesundheitsproblems auf dem Endergebnis von jahrzehntelangen erfolgreichen Entwicklungen, deren Anfänge uns nicht mehr präsent sind.
Weil Impfungen funktionieren, müssen Eltern nicht mehr die Polio-Lähmung befürchten oder das Ersticken ihrer Kinder durch Diphtherie. Weil Asthma mit inhalativen Kortikoiden in 95% der Fälle sehr gut kontrolliert werden kann, wird die Erkrankung nicht mehr als so bedrohlich wahrgenommen und der Unterschied, den die etablierte Therapie gegenüber früheren Zeiten ausmacht, wird kaum noch wahrgenommen.
Auch Hygienestandards und die Qualität von Trinkwasser und Nahrungsmitteln sind in den Industrieländern so hoch, dass ParamedizinerInnen es sich leisten können, Nebenschauplätze zu bespielen, was sich dann in der (Pseudo-)Optimierung von Vitaminen (D), Nährstoffzusammensetzungen (Dinkel vs. Weizen) oder Vermeidung von scheinbar Schädlichem (Gluten) äußert.
Eine wissenschaftliche Aufarbeitung solcher Themen findet hier zwar statt und kann helfen, gut begründete Entscheidungen zu treffen. Die Propaganda von selbsternannten Heilern und Anbietern teurer Alternativprodukte ist aber vielfach wirkmächtiger als nüchterne Aufklärung. Erst der Aufbau von Prävention und die Behandlungserfolge bei vielen Krankheitsbildern haben die Grundlage dafür geschaffen, dass die Motivation der Bevölkerung, einige subjektiv lästige Maßnahmen (wie das Impfen) auch mitzutragen, immer härter erkämpft werden muss. Auch die intensive Beschäftigung mit eher kleineren Aspekten der Gesundheitsfürsorge wird überhaupt erst durch die schon gelungene Überwindung der größten Gefahren möglich. Man möge sich dies vergegenwärtigen, wenn Menschen, die Impfungen grundsätzlich ablehnen, andererseits von Maßnahmen überzeugt sind, deren Wirksamkeit oft mehr als fraglich ist (wie z.B. Überdosierung von Vitaminen). Die kognitive Dissonanz, die eigentlich da sein müsste, ist längst verblasst – Folge des Survivor bias.
False Balance – Die einen sagen so, die anderen so
Eine teilweise kalkulierte, teilweise unfreiwillige Schützenhilfe liefert der Pseudomedizin die Presse in ihrem Bestreben nach einer möglichst ausgewogenen Berichterstattung. Aber so wie es zwischen dem anerkannten und millionenfach überprüften Modell der (annähernd) kugelförmigen Erde und der aus Ignoranz, Naivität oder dem Wunsch nach der Existenz von geheimem Spezialwissen neu belebten Idee einer flachen Erde keine neutrale Mittelposition gibt, so sollte es auch in der Bewertung von klarer medizinischer Evidenz keine zwei Maßstäbe geben. Zwar schaut ein nicht unbedeutender Teil der in der Heilkunde Tätigen und der PatientInnen nicht über den nur oberflächlich richtigen, zumindest unvollständigen Satz „Wer heilt, hat recht“ oder den (wunschgetriebenen) Glauben an eine nebenwirkungsfreie, sanfte, effektive Heilkunde hinaus. Das ist aber kein legitimer Grund für die Medien, dieses Konglomerat aus Wunschdenken und Ignoranz dem hart erarbeiteten Erkenntnisgewinn in der Wissenschaft als gleichwertig gegenüberstellen. Dazu zählen auch die unendlich wiederholten Clickbait-Überschriften („Homöopathie – Was ist dran?“), die offene Fragen suggerieren, wo es längst keine offenen Fragen mehr gibt. Von JournalistInnen ist – wie auch in politischen Debatten – bei deutlicher Polarisierung der Positionen nicht achselzuckende Neutralität zwischen den Positionen, sondern das Bemühen um echte Objektivität gefragt, wenn es intersubjektiv begründbare Positionen zu vertreten gilt.
Money Money Money
Ein häufig anzutreffender Kritikpunkt, der von VertreterInnen der Paramedizin ins Feld geführt wird, ist das Profitstreben im Gesundheitswesen. In der Pharmaindustrie ist der Einfluss von Geld als Antrieb schon länger spürbar, zunehmend finden sich diese Effekte angesichts des wachsenden Einflusses von Krankenhauskonzernen aber auch bei den Entscheidungsprozessen im Medizinbetrieb selbst. Es gibt viele legitime Gründe, diese Entwicklung kritisch zu beobachten und Korrektive einzufordern, um den Aspekt der Daseinsfürsorge in diesem sensiblen Bereich des Lebens wieder in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen.
Bezüglich der Motivation, mit Gesundheitsleistungen Geld zu verdienen, besteht aber ohnehin kein grundsätzlicher Unterschied zwischen Herstellern von wirkstoffhaltigen Pharmaka und Homöopathie-Herstellern oder zwischen evidenzbasiert arbeitenden ÄrztInnen und AnbieterInnen von zweifelhaften Verfahren. Der große Unterschied ist, dass bei aller unbestreitbar möglichen Einflussnahme von Industrie und Lobbyisten bei der regulären Zulassung und Qualitätskontrolle von Arzneimitteln und Therapieverfahren wirksame Kontrollmechanismen existieren. Randomisierte Studien mit Peer-Review, Zulassungsverfahren und Meldesysteme bei der praktischen Anwendung sorgen dafür, dass unwirksame oder schädliche Anwendungen gar nicht erst ins Medizinsystem gelangen, zumindest aber früher oder später aufgedeckt werden und irgendwann ganz verschwinden. In der Pseudomedizin ist diese Kontrolle nicht existent, da von Anfang an kein objektives Kriterium definiert wurde, mit dem Wirksamkeit und Sicherheit überwacht werden könnten. Hier zeigt sich eine eklatante Schwäche einer auf subjektiver Erfahrung und Beliebigkeit basierenden Form der Heilkunde, die auch erhebliche Auswirkungen auf die Patientensicherheit hat – wo Kriterien fehlen, fehlen eben auch Kriterien, an denen Fehler und Fehlverhalten gemessen werden könnten.
Fazit
Ich werde mich weiter im Diskurs und in der Beratung in meiner Praxis für wissenschaftliche Medizin und für eine faktenbasierte, selbstkritische Entscheidungsfindung in Diagnostik und Therapie einsetzen. Der Ruhm von spektakulären Heilsversprechen und selbstherrlichem, feinstofflichem Alles-erklären-Können bleibt dann zwar aus, aber dafür bleibt der Anspruch, einen objektiven Qualitätsstandard erfüllen und an dessen Verbesserung mitwirken zu können.
Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
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