Ein Buch vom Anfang des 19. Jahrhunderts – eine Bibel heutiger “Heilkunde”?
Das Organon kann mit Fug und Recht als die Bibel der Homöopathen bezeichnet werden. Es wurde vom Erfinder der Homöopathie, dem sächsischen Arzt Samuel Hahnemann, erstmals im Jahre 1810 veröffentlicht und erfuhr von seiner Hand insgesamt fünf Überarbeitungen und somit sechs Auflagen.
Ein Jahr vor seinem Tod (1842) vollendete Hahnemann die 6. Fassung des “Organon”, das Manuskript blieb jedoch aufgrund von Nachlassstreitigkeiten unveröffentlicht und kam erst 1921 ans Licht der Öffentlichkeit. Fast 80 Jahre lang wurde also die Homöopathie nicht nach den Anweisungen “letzter Hand” Hahnemanns praktiziert. Beispielsweise hatte sich die “Nosodenlehre” längst als Teil der Homöopathie etabliert, weil nicht bekannt war, dass Hahnemann das zugrunde liegende Prinzip der Isopathie (Gleiches heilt Gleiches) in der 6. Auflage mit Entschiedenheit verwarf. Was bis heute fortwirkt. Außerdem sorgt die Einführung der Höchstpotenzen (Verdünnungsschritte 1 : 50.000) in der 6. Auflage bis heute für Meinungsverschiedenheiten zwischen den Homöopathen.
Der Begriff Organon kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie Werkzeug, und als solches hat es Hahnemann auch gesehen. Das Organon sollte das Werkzeug zur Heilung der Patienten sein. Sein Buch richtete sich deswegen auch nicht nur an Ärzte, sondern auch an Patienten. Teilweise verschenkte Hahnemann sein Organon auch an seine eigenen Patienten.
Durchaus finden sich auch sinnvolle Vorschläge zur persönlichen Hygiene oder zur Lebensführung im Krankheitsfalle – aber ebenso wird das Nichtbeachten vieler Dinge der üblichen Lebensführung in abstruser Weise als vorgebliche Ursachen angeführt, die einer Wirkung der Homöopathie entgegenstehen sollen. So etwa das Tragen schafwollener Unterwäsche oder “unkeusche Gedanken”.
Einen guten Teil des Organons nimmt natürlich die Erläuterung des homöopathischen Grundprinzips ein, dass Ähnliches mit Ähnlichem geheilt werden soll. Ebenso wie die Anweisungen zur Potenzierung, also der Verdünnung der Wirksubstanzen. Hahnemann ging in seiner Lehre nämlich davon aus, dass durch die Verdünnung die Wirkung (“geistige Arzneikraft”) nicht schwächer, sondern stärker würde.
Wobei man hier Hahnemann kaum einen Vorwurf machen kann. Zu der Zeit, in der er sein Organon schrieb, waren die Grundlagen pharmazeutischer Wirkmechanismen noch nicht bekannt, ebensowenig Viren oder Bakterien (Keime) als Krankheitserreger (erste Ideen dazu gab es zwar schon lange, waren aber noch bedeutungslos für die damalige ärztliche Praxis), steckte die naturwissenschaftlich orientierte Medizin doch noch in den Kinderschuhen. Deswegen muss man das Organon und seine Entstehung auch immer vor dem historischen Kontext einer immer noch vorwissenschaftliche geprägten Ära sehen.
Worauf Samuel Hahnemann in seinem Organon allerdings dringt, ist die Erstellung einer umfangreichen Diagnose, was heute als “Erstgespräch” bezeichnet wird. Nur durch dieses Diagnosegespräch könne das “Symptomenbild” des Patienten festgestellt werden, was dann Voraussetzung für die Findung des “einzig richtigen” Mittels und damit für eine umfassende und nachhaltige Heilung sei. – Am Rande: Wenn man diesen Paragraphen im Organon liest, stellt sich die Frage: Und wie soll dann die Tierhomöopathie wirken? Ein Diagnosegespräch mit Hund oder Pferd dürfte doch ein bisschen schwierig sein. Und von einem Homöopathikum, das aufgrund des guten Ratschlages vom Gartennachbarn genommen wird, ganz zu schweigen.
Ein weiterer interessanter Punkt ist, dass Hahnemann davon ausgeht, dass immer nur eine Krankheit (1) im Körper des Menschen ihr Unwesen treiben kann, die auch nur mit einem Wirkstoff behandelt wird (die “unitas remedii“, von den genuinen und klassischen Homöopathen oft auch als “Hahnemanns viertes Gesetz” bezeichnet). Das ist einsichtig, wenn man versteht, dass Hahnemann mit seinen Mitteln eine “Kunstkrankheit” ähnlicher Art hervorrufen wollte (symptomatisch schwächer, aber “vom Wesen her” stärker als die Ausgangskrankheit), der dann zwangsläufig die Ausgangskrankheit weichen müsse. Wenn man überhaupt etwas als “homöopathisches Wirkprinzip” bezeichnen will, dann wäre es diese “Auslöschung” durch die “Kunstkrankheit”. Die heutigen Komplexmittel aus mehreren Grundsubstanzen (“homöopathischen Trikomplexe“) , die wir aus der Werbung kennen, widersprechen völlig den Grundgedanken Hahnemanns im Organon. Und dabei geht es nicht um Marginalien, sondern um die Lehre konstituierende Kernsätze der Homöopathie. Bei Hahnemann heißt es eindeutig: eine Krankheit, ein Wirkstoff, eine Gesundung.
Dass Samuel Hahnemann bereits in den ersten Jahren nach der Veröffentlichung seiner neuen Glaubenslehre auch schon harschen Gegenwind spürte, merkt man spätestens ab der fünften Auflage des Organons. In dieser Auflage beschimpft er seine Gegner heftig und “abtrünnige Homöopathen” aufs Massivste. Die abtrünnigen Homöopathen sogar noch heftiger als die Gegner, so ist da vom “After-Homöopathen” oder von “Mischlings-Homöopathen” zu lesen. Damit meint er vor allem diejenigen, die von seiner Lehre abwichen und eigene “Variationen” schufen (von denen es heute eine Menge gibt, die sowohl dem Organon als auch sich selbst untereinander teils massiv widersprechen) – aber auch die, die sich erdreisteten, die Homöopathie neben “allopathischen” Methoden anzuwenden. Was hätte er wohl heute vom Lobpreis der “komplementären Anwendung” seiner Homöopathie gesagt?
Interessant ist auch, dass sich am Organon, und damit an der homöopathischen Kernlehre, in den letzten 200 Jahren nichts geändert hat. Gerade die ärztliche Homöopathie beruft sich meist darauf, die “klassische” (an Hahnemann stark angelehnte) oder die “genuine” (Hahnemann wortwörtlich nehmende) Homöopathie zu vertreten. Was allerdings nicht heißt, dass tatsächlich immer Hahnemanns Gedankengängen konsequent gefolgt wird. Obschon sich das medizinische Wissen in dieser langen Zeit extrem vervielfältigt hat, wurde kein Paragraph dieses Buches revidiert oder ersetzt. Es gibt zwar eine “textkritische Ausgabe”, die aber inhaltlich an nichts rührt, was Hahnemann seinerzeit postulierte. Trotzdem ist dieses Buch aus dem frühen 19. Jahrhundert die Grundlage der homöopathischen Aus- und Fortbildung – auch und gerade der “offiziellen” im Rahmen der Weiterbildungsordnungen der Landesärztekammern für den Erwerb der “ärztlichen Zusatzbezeichnung Homöopathie”- Von denen inzwischen allerdings nicht mehr viele (drei von 17 LÄK) übriggeblieben sind (Juni 2023)
Einen größeren Kontrast zwischen dem dogmatischen “Organon” als Grundlage von “Lehre und Praxis” der Homöopathie und der nach wissenschaftlichen Grundsätzen undogmatisch und ergebnisoffen fortschreitenden wissenschaftsbasierten Medizin ist kaum denkbar. Wo ist hier wohl ein Begriff wie “Schulmedizin” zu verorten?
(1) Wobei Hahnemann den Begriff Krankheit nicht verwendete, ja, zeitlebens die Vorstellung einer “typisierbaren” Erkrankung ablehnte, worauf ja auch die vorgebliche “Individualität” der homöopathischen Behandlung beruht. Als Erkrankung sah er die Gesamtheit des individuellen “Symptomenbündels” des Patienten an. Dies enthob ihm – man muss das einmal durchdenken – auch des Problems, dass doch in vielen Fällen das Vorhandensein mehrerer “Krankheiten” in einer Person offensichtlich war. Für ihn war alles nur Bestandteil des als Entität zu verstehenden individuellen Symptomenbündels, dem es mit der Auslösung einer möglichst ähnlichen “Kunstkrankheit” entgegenzuwirken gelte.
Bild: Andreas Weimann für das INH
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