Binnenkonsens: Was ist das eigentlich?

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Dekorativ
WIR sind uns jedenfalls einig…

Mitte der 1970er Jahren begannen die Beratungen zu einer grundlegenden Neuordnung des deutschen Arzneimittelrechts, die dann 1976 zur Verabschiedung des Arzneimittelgesetzes 1978 führten (es trat am 1. Januar 1978 in Kraft). Im Großen und Ganzen bestand vorher die staatliche Beteiligung am Arzneimittelwesen in nicht viel mehr als einer „Registrierung“ von Arzneimitteln, die in der Verantwortung der Pharmahersteller auf den Markt gebracht wurden.

Es hatte lange gedauert, bis der Gesetzgeber sich auf eine eigene Verantwortung im Bereich der Arzneimittelversorgung besann. Ein Auslöser hierfür war der Contergan-Skandal der 1960er Jahre. An diesem schrecklichen Vorgang, bei dem weder der Hersteller noch die staatlichen Stellen ein besonders glückliches Bild abgaben, wuchs dann das Bewusstsein für einen Handlungsbedarf. Contergan (Thalidomid) war übrigens nicht das einzige aufgetretene Problem, in seinen Auswirkungen und seiner öffentlichen Wahrnehmung aber natürlich ein Fanal.

Der Grundansatz des neuen Arzneimittelgesetzes war, die Registrierung durch eine „Zulassung“ von pharmazeutischen Arzneimitteln zu ersetzen und diese an wissenschaftlich fundierte Nachweise von Wirkung und Nebenwirkungen zu knüpfen.  Die parlamentarische und außerparlamentarische Diskussion zog sich über gut zwei Jahre hin – am Ende stand das „Arzneimittelgesetz 1978“ (AMG). Damit wurde die Abkehr von einer weitgehend individuell-erfahrungsbasierten hin zu einer auf möglichst objektivierbaren Grundlagen beruhenden Arzneimitteltherapie vollzogen. Damit verbunden war ein überfälliges Bekenntnis dazu, dass der Staat sich nicht der (Mit-)Verantwortung für die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung länger entziehen durfte. Keine neue, aber eine späte Erkenntnis.

Alle damals bereits registrierten Altmittel wurden einem sogenannten Nachzulassungsverfahren unterzogen, viele erhielten keine Zulassung mehr – oft zum Leidwesen von Ärzten (und Herstellern), die mit diesen Mitteln lange Zeit eben „Erfahrungsheilkunde“ betrieben hatten. Selbst die in der damaligen DDR zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung marktgängigen Pharmazeutika unterlagen einem solchen Nachzulassungsverfahren. Eine gewaltige Aufgabe, der man sich da gestellt hatte.

So weit, so bemerkenswert. Also stehen alle erhältlichen Arzneimittel auf dem Boden wissenschaftlich belegter Wirksamkeitsnachweise?Mitnichten.

Die Lobby der „Erfahrungsmedizin“

Einer sehr rührigen parlamentarischen und auch außerparlamentarischen Lobby war es nämlich bei den Beratungen zum AMG 1978 gelungen, Sonderrechte für die damals so bezeichnete „Erfahrungsheilkunde“ zu erlangen, wozu neben der Homöopathie auch die Anthroposophie und die Pflanzenheilkunde gezählt wurden (wie diese drei zusammenhängen, ist eine Geschichte für sich). Damals konnte den Parlamentariern im Rahmen der anstehenden „Neuerungen“ suggeriert werden, dass die „Erfahrungsheilkunde“ dieser Richtungen einen ganz anderen „Ansatz“ verfolge (was genau so aktuell wieder als „Pluralismus in der Medizin“ eingefordert wird) und der Grundsatz des wissenschaftlichen Nachweises sozusagen an den „Besonderheiten“ dieser Richtungen vorbeigehe. Die damalige Bundestagsdrucksache hierzu spricht Bände und ist durchaus interessant zu lesen. [1]

Die Interessenvertreter der „Erfahrungsheilkunde“ hatten dabei zunächst durchaus schlechte Karten, erstritten sich dann aber einen Platz in den Vorberatungsgremien und als selbst dies nicht den gewünschten Effekt hatte, wurde versucht, die Allgemeinheit zu einer Kampagne zu bewegen, die mit Pseudoargumenten wie „Erhalt der Patientenautonomie“, „Pluralismus in der Medizin“ und „wissenschaftlichem Reduktionismus“ daherkam – einigermaßen laut und durchaus vernehmbar, wenn auch nicht so umfangreich, wie man sich das vielleicht gedacht hatte. Wir begegnen dieser Argumentationsweise noch heute. Letztlich ging man gar so weit, dem Staat die Legitimation zu bestreiten, überhaupt den Marktzugang von Arzneimitteln zu regeln. So ganz ohne Eindruck blieb all dies, jenseits des argumentativen Gehalts, nicht.

So manchem Parlamentarier dürfte durchaus klar gewesen sein, dass die Forderung nach nachgewiesen wirksamen Arzneimitteln nichts mit „Pluralismus in der Wissenschaft“ und „grundsätzlich anderem Ansatz“ zu tun hat, sondern nichts anderes darstellt als einen selbstverständlichen Grundkonsens für die Gesundheitsversorgung. Nur hat man das nicht wirklich wichtig genommen und -vielleicht die falsche Annahme gehegt, man möge den Erfahrungsheilkundlern doch ihren Willen lassen, da sie ja „nicht schaden würden“. Aber: Es ging – und geht heute noch – einfach um die Abgrenzung von nachweislich wirksamer Medizin zu allem, was einen solchen Nachweis nicht erbringen kann. Mit dem Paradigmenwechsel in der Medizin weg von der reinen Erfahrungsmedizin („eminenzbasierte Medizin“) hin zur Evidenzbasierten Medizin, die mit der bekannten Veröffentlichung von David Sackett et al. im British Medical Journal 1997 endgültig eingeläutet wurde, ist diese Grenzziehung noch einmal pointiert definiert und hervorgehoben worden. Dies ist der Konsens heutiger, moderner Medizin. Und dem steht der Binnenkonsens diametral entgegen.

Es wird den Vertretern der homöopathischen und anthroposophischen Lobby völlig bewusst gewesen sein, dass für ihre Mittel die Forderung eines wissenschaftlichen Wirkungsnachweises praktisch das komplette Aus auf dem Arzneimittelmarkt bedeutet hätte. Was, nebenbei bemerkt, im Grunde ein Eingeständnis war, dass die Behauptungen der Homöopathen zur Wirksamkeit ihrer Mittel und deren großen Nutzen für den Patienten nicht belegbar waren. Es ging also um etwas.

Das AMG 1978 – ein selbstwidersprüchliches Gesetz

Und so kam es zu einem glatten Bruch mit dem, was eigentlich Intention des neuen Gesetzes gewesen war, zugunsten dessen, was damals als „Erfahrungsheilkunde“ bezeichnet wurde und sich als eine Art „zweite Medizin“ zu präsentieren verstand. Sonderregelungen im AMG etablierten die Homöopathie, die Anthroposophie und die Phytotherapie (Pflanzenheilkunde) als „besondere Therapierichtungen“ und statteten sie mit Sonderrechten aus. Auf einen Wirksamkeitsnachweis nach anerkannten wissenschaftlichen Methoden, wie er eigentlich für alles, was als Arzneimittel firmieren will, der Sinn und die Intention des Gesetzes gewesen war, wurde für diese Mittel verzichtet.

Um den Anschein einer staatlichen Regulierung zu wahren, wurde bestimmt, dass für die Mittel der „besonderen Therapierichtungen“ besondere Kommissionen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (das damals noch anders hieß) einzurichten seien. Für die Homöopathika ist dies auch heute noch die Kommission D.

Das alte Instrument der einfachen „Registrierung“ wurde für die Arzneimittel dieser „Richtungen“ beibehalten, sofern sie nur einen einzelnen Wirkstoff enthielten (wie Hahnemann forderte), eine Potenzstufe von mindestens D4 (1:10.000) aufweisen und nicht mit einer medizinischen Indikation vertrieben und beworben werden sollten – als rein verwaltungstechnischer Vorgang bei der Abteilung 4 des BfArM. Diese Dienststelle entscheidet, ob es sich überhaupt um Homöopathika handelt (natürlich ist die einfache Registrierung außerordentlich „beliebt“) und macht dies – entsprechend den Definitionen der EU-Arzneimittelrichtlinie – vom „Herstellungsverfahren“ abhängig, also von der Anwendung des Prinzips der potenzierten Ursubstanz. Zudem wird noch auf Sicherheit und die Einhaltung von Good Manufacturing Practice-Regeln (Qualitätssicherung) bei der Produktion geprüft (was kein besonders strenger Maßstab ist und das Grundproblem der nicht nachgewiesenen Wirkung. also das der Eignung des Produkts für den vorgesehenen Zweck, gar nicht berührt).

Die Kommission D – homöopathische „Zulassung“

Diejenigen Hersteller, die mit einer Indikation, also einer Information über Anwendungsgebiete werben wollen, können einen „Antrag auf Zulassung“ stellen. Über diesen hatte und hat die Kommission D zu befinden. Sie stützt sich dabei auf „homöopathisches Erkenntnismaterial“, dessen Bewertung den „Vertretern der Therapierichtung“ innerhalb der Kommission D vorbehalten ist. Ersichtlich fehlt es am Maßstab der anerkannten wissenschaftlichen Methodik und der für ein wissenschaftlich fundiertes Vorgehen unumgänglichen Intersubjektivität – im Gegenteil, diese wird zugunsten einer „fachinternen“, mithin stets subjektiven Begutachtung ausgeklammert.  Auf diese Weise werden zwar die „besonderen Therapierichtungen“ vor den Anforderungen objektiver Wissenschaftlichkeit geschützt, gleichzeitig fehlt ihnen aber infolgedessen auch jede Möglichkeit, sich auf eine solche zu berufen (was gleichwohl geschieht – mit den wiederholten Versuchen, die gesetzliche Fiktion eines „Wirkungsnachweises“ mit einem solchen nach wissenschaftlichen Kriterien argumentativ gleichzusetzen).

Das Bild ist ein Zitattext, der lautet:

Dieser Anspruch auf Binnenanerkennung, der eine Überprüfbarkeit durch Nichtbeteiligte ausschließt, ist der endgültige Beweis der Nichtwissenschaftlichkeit.
So kann sich jedes medizinische Sektierertum frei entfalten.
Prof. Dr. Jphannes Köbberling, ehem. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin

Nochmals zur Verdeutlichung: Die Aufgabe der Kommission D (und der Kommissionen für die anderen besonderen Therapierichtungen) ist nicht etwa die Bewertung der Zulassungsanträge nach objektiven wissenschaftlichen Kriterien, wie dies für normale Pharmazeutika der Fall ist. Nein, dort wird im internen Kreis von „Fachleuten“, die über den „medizinischen Sachverstand der Therapierichtung“ verfügen, über die Zulassung und damit den Marktzugang von Homöopathika mit Indikationsangabe befunden. Unter sich. Im gemeinsamen Konsens. Nach Maßgabe persönlicher Wahrnehmung, Meinung oder „Erfahrung“, nach „interner Evidenz“ statt nach intersubjektiven, allgemeingültigen Kriterien. Diese Situation ist seit 1978 unverändert – auf der Homepage der Abteilung 4 des BfArM ist nach wie vor gar von einem „Wissenschaftspluralismus“ auf dem Gebiet der Arzneimitteltherapie die Rede, den die Gesetzgebung (vor 40 Jahren) ausdrücklich vorgesehen habe. Schon damals ein Anachronismus, dem nicht hätte gefolgt werden dürfen. [2]


Dies ist der so oft beschworene „Binnenkonsens“, der bis heute die Homöopathie (und die anderen „besonderen Therapierichtungen“) in unvertretbarer Weise privilegiert, ja, einen regelrechten Schutzzaun um diese errichtet. Während sich seit dem Inkrafttreten des AMG 1978 die Regeln und Methoden für Wirksamkeits- und Nebenwirkungsnachweise für alle anderen Pharmazeutika immer mehr verbessert und verfeinert haben (auf dem Gebiet wissenschaftlicher Methodik ebenso wie bei den rechtlichen Rahmenbedingungen), tagt nach wie vor unbeirrt die Kommission D und befindet nach dem Gusto einiger weniger Persönlichkeiten, die erklärtermaßen der Lobby der „Therapierichtung“ angehören, über den Marktzugang von Mitteln. Von Mitteln, die rechtlich – und in der Wahrnehmung der Allgemeinheit – genauso „Arzneimittel“ sind wie jedes pharmazeutische Produkt, das einen oft jahrelangen Prüf- und Zulassungsprozess durchlaufen hat (nur etwa acht Prozent aller Neuentwicklungen der pharmazeutischen Industrie schaffen es überhaupt bis zur Zulassung, teilt die US-Zulassungsbehörde FDA mit). Um den Erhalt dieser gesetzlichen Sonderregelung bemüht sich die Homöopathie – und die Anthroposophie – sichtlich nach Kräften. Denn davon hängt ihre Verankerung im Gesundheitswesen unmittelbar und die im Sozialversicherungsrecht mittelbar ab.

Es gibt wohl wenig im deutschen Arzneimittelrecht, was reformbedürftiger wäre.

Noch eins obendrauf: der sozialrechtliche Binnenkonsens

Als sei die Geringschätzung gegenüber wissenschaftlicher Validität im Gesundheitswesen damit noch nicht genug ausgeprägt, verstand sich der Gesetzgeber rund 20 Jahre nach der Verabschiedung des AMG dazu, einen Binnenkonsens noch an anderer Stelle gesetzlich zu verankern. Diesmal mit der kaum verhohlenen Absicht, praktisch jeglicher Art von Pseudomedizin Tür und Tor im Sozialversicherungsrecht zu öffnen: Nämlich im Paragrafen 135 SGB V, „Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden“. In dem stand bis 1997:

Neue medizinische Verfahren können nur dann von Krankenkassen bezahlt werden, wenn ihre Wirksamkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse anerkannt ist.“

Aufgrund einer Initiative aus dem Kreis der CDU-Bundestagsfraktion wurden 1997 vier harmlos erscheinende Worte hinzugefügt: nämlich „in der jeweiligen Therapieform“. Das soll heißen: Bei der Zulassung von Mitteln oder Methoden zur Kassenerstattung wäre das Votum von Vertretern irgendwelcher Therapieformen entscheidend, wenn sich nur genug Ärzte oder Therapeuten zusammenfinden, die bereit sind, ein solches Votum auf ihre Kappe zu nehmen:

Neue medizinische Verfahren können nur dann von Krankenkassen bezahlt werden, wenn ihre Wirksamkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapieform anerkannt ist.

Eine Verirrung sondergleichen, eine Missachtung der Grundsätze der Gesundheitsökonomie und ironischerweise nahezu zeitgleich mit der bahnbrechenden Veröffentlichung von Sackett et al., die das genaue Gegenteil dieser Regelung als Paradigma zeitgemäßer Medizin postulierte. Auch dies muss selbstverständlich wieder rückgängig gemacht werden.

Auf die Denkweise der hier Verantwortlichen wirft es ein bezeichnendes Licht, dass die Begrifflichkeit „Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ offensichtlich einen doppelten Inhalt bekommen sollte.  Ungeachtet des Wortlauts dürfen wir davon ausgehen, dass hier zwei „verschiedene“ Stände der Wissenschaft gemeint waren – außerhalb und innerhalb der „jeweiligen Therapieform“. Im Lichte der Vernunft und des gültigen Wissenschaftsbegriffs betrachtet, ist das Unsinn. Es gibt keine „zwei Wissenschaften“ – eine außerhalb und eine innerhalb einer „besonderen Therapierichtung“. Wissenschaft ist nicht teilbar. Auch nicht durch Gesetze. Sehen wir jedenfalls so.

Der Gutachter, auf den diese Gesetzesänderung zurückgeht, formulierte das allerdings anders: Er meinte, dass „der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse“ von den „Vertretern der jeweiligen besonderen Therapierichtungen bestimmt“ werden solle. Ein Wissenschaftsbegriff, bei dem einem schon rein sprachlogisch graust. Und so etwas schlägt sich in der deutschen Sozialgesetzgebung nieder … Wahrlich ein Rückfall ins Mittelalter.


[1] http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/07/050/0705091.pdf

[2] https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Arzneimittelzulassung/Zulassungsarten/BesondereTherapierichtungen/_node.html


Zum tieferen Einlesen in die Entwicklung vor der Verabschiedung des AMG 1978:
Kessel N, Umstrittene Expertise. Der Beirat ‚Arzneimittelsicherheit‘ in der bundesdeutschen Arzneimittelregulierung 1968-1976, Medizinhistorisches Journal 44(1):61-93, https://t1p.de/oy2xq

maiLab über „Deutschlands schlechtestes Gesetz“; https://youtu.be/7tEoehixGvk


Edit: Präzisiert und erweitert am 05.07.2019, am 30.06.2021 und am 13.07.2022

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