Homöopathie hilft – als Ritual

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Zusammenfassung

Heilung, Heilungserfahrung und Wirkung - was wirkt, was hilft wodurch und warum?

Healing, healing experience and effect - what works, what helps through what and why?

Homöopathische Hochpotenzen enthalten keine Wirkstoffe (und sicherlich auch keine Energie) und können dementsprechend keine eigenen und unmittelbaren Wirkungen haben. Jedoch ist die Gabe von Medikamenten – das gilt auch für homöopathische Hochpotenzen – ein Ritual, das eine mittelbare Wirkung entfaltet. Diese Ritualwirkung erfordert Vertrauen des – ich nenne es mal so – “Beschenkten” in den “Schenkenden”. Und es ist auch richtig, dass die Wirkung der rituellen Medikation nachlässt, wenn das Vertrauen in das Ritual dahin ist. Bei homöopathischen Hochpotenzen ohne unmittelbare pharmakologische Wirkung bleibt dann nicht mehr viel Wirkung übrig, wenn das Vertrauen in den Ritus “Abgabe von homöopathischen Mitteln” auch noch verloren ist und die rituelle Medikation nicht mal mehr eine mittelbare Wirkung zeigt.

Aber auch eine “lange” und ausführliche Anamnese ist ein Ritual mit einer eigenen mittelbaren Wirkung. Das ist selbst dann so, wenn die Anamnese Daten erhebt, die für eine korrekte medizinische Diagnosestellung unerheblich und nur aus Sicht der Homöopathie plausibel sind.

Sollte man dann nicht in Kenntnis dieser rituellen Wirkungen auf jedwede Kritik an der Homöopathie verzichten? Sollte man nicht viel mehr das Vertrauen in die Homöopathie stärken und damit die Wirksamkeit der rituellen Behandlungen? Ist es nicht kontraproduktiv, wenn kritische Aufklärung und Information das Vertrauen in die homöopathischen Hochpotenzen schmälern und damit auch das Vertrauen in die ganze Therapierichtung? Und: Kann eine homöopathische Anamnese allein überhaupt eine rituelle Wirkung entfalten, wenn im Anschluss die homöopathische Therapie ausfällt oder ihrer Wirkung durch Aufklärung beraubt ist?

Die implizierte Schlussfolgerung aus diesen Fragen, nämlich dass die homöopathische Anamnese tatsächlich wirkungslos bleibt, wenn sie keine Konsequenzen hat im Sinne einer Abgabe von homöopathischen Mitteln (Tropfen oder Globuli), mag plausibel klingen – aber wir halten sie für fehlerhaft und nicht belegt.

Anamnese und homöopathische Medikation sind zwei eigenständige Rituale, die prinzipiell unabhängig voneinander sind. Die Schlussfolgerung, dass eine homöopathische Anamnese notwendigerweise eine homöopathische Mittelanwendung nach sich ziehen müsse, weil nur beide gemeinsam wirken können, ist ein logischer Fehlschluss. Eine homöopathische Anamnese entfaltet durchaus auch dann ihre Wirkung, wenn im Anschluss keine homöopathischen Medikamente verordnet werden.  (1)

Es gibt mehrere Punkte, die einer näheren Betrachtung bedürfen. Die Wirkung des Rituals “homöopathische Medikation” ist eine Placebowirkung. Sie wirkt bei “homöopathisch bearbeitetem” Zucker genauso gut oder schlecht wie bei einem “nicht bearbeitetem” Zucker; das ist durch Studien belegt. Die Placebowirkung – übrigens auch bei Kindern und Tieren nachgewiesen – wird durch die Information, dass ein Mittel ein Placebo ist, zwar verringert, aber nicht aufgehoben! Die Placebowirkung lässt sich auch durch schonungsloses Offenlegen der Fakten nicht auslöschen.

Zweitens gibt es noch andere Faktoren, die ein Gefühl der Wirksamkeit hervorrufen. Die wichtigsten sind: Spontanheilung, Spontanverlauf mit Regression zur Mitte, selektive Wahrnehmung und Wunschdenken. Diese Komponenten wirken unabhängig vom Ritual der “homöopathischen Medikation” und können durch ein schonungsloses Offenlegen der Fakten ebenfalls nicht ausgelöscht werden.

Drittens ist die Ritualwirkung natürlich auch vorhanden, wenn man statt inhaltsleerer Globuli wirksame Medikamente appliziert, die ihre Wirksamkeit vor der Zulassungsbehörde mit Studien nachgewiesen haben. Nicht nur das pseudomedizinische Rezept ist ein Ritual – auch das medizinische Rezept ist es. Es steht außer Frage, dass die Kombination “Ritual und wirksames Medikament” besser wirkt als die Kombination “Ritual und unwirksames Medikament”.

Gleiches gilt auch für die Anamnese: Nicht nur die pseudomedizinische Anamnese ist ein Ritual – auch die medizinische Anamnese ist es. Wir Mediziner erkennen neidlos an, dass sich Homöopathen mehr Zeit nehmen (können) als wir und dass die rituelle Wirkung der homöopathischen Anamnese dadurch einer normalen medizinischen Anamnese überlegen sein kann (ich schreibe “kann” und nicht “ist”, denn es gibt außer dem Kriterium “Gesprächsdauer” auch noch inhaltliche Aspekte einer Anamnese, die selbst für medizinische Laien erkennbar unterschiedlich wertvoll sind).

Und unter diesen genannten Gesichtspunkten ist die Frage, ob man nach einer homöopathischen Anamnese auch homöopathische Mittel abgeben muss, nicht mehr mit “ja” zu beantworten. Es ist doch klar, dass die rituelle Behandlung mit homöopathischen Mitteln Vertrauen einfordert von Patienten – Vertrauen, das nicht gerechtfertigt ist. Die Behandlung mit homöopathischen Mitteln beruht auf Täuschung der Patienten, zumindest als Folge – und in Kombination mit – einer Selbsttäuschung des Homöopathen.

Wir wollen die Homöopathie keineswegs verbieten, aber wir wollen darüber informieren, auf welchen Mechanismen die Homöopathie beruht. Im Gegensatz zur 200 Jahre alten Homöopathie ist die Medizin heute auch in medizinethischer Hinsicht weiter: Wir betrachten unsere Patienten schon lange als Partner. Wir lehnen es ab, Therapieerfolge erzielen zu wollen, die nur durch den Einsatz von Autorität erreicht werden können – Autorität, die nicht hinterfragt werden darf, will sie nicht wirkungslos bleiben.

Das Einfordern von Anerkennung einer therapeutischen Autorität – Stichwort “eminenzbasierte” statt “evidenzbasierte” Medizin – mag im Bereich harmloser Befindlichkeitsstörungen durchaus Patientenzufriedenheit generieren. Die Gefahr liegt jedoch in der Grenzenlosigkeit! Wer Erfolge bei harmlosen Befindlichkeitsstörungen erlebt – sei es als Homöopath oder als Patient -, ist schwer bis gar nicht davon zu überzeugen, dass der gleiche therapeutische Ansatz bei ernsten Erkrankungen unwirksam und damit gefährlich ist – was sich aus Sicht der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen auch in Zukunft nicht ändern kann.

Ein Verzicht auf übertriebene und nicht indizierte Behandlungsmaßnahmen bei harmlosen Befindlichkeitsstörungen wird von der Medizin – und explizit auch von uns Homöopathiekritikern – nicht kritisiert, sondern befürwortet. Die medizinisch korrekte Behandlungsmethode in diesen Fällen ist die Aufklärung der Patienten über die Natur der Harmlosigkeit der Befindlichkeitsstörung und über allgemeine Maßnahmen zur Linderung der Beschwerden. Das ist aufwändig und stößt sogar oftmals auf Ablehnung. Viel leichter haben es die Homöopathen, die keine Erklärungen liefern, sich keinen Diskussionen stellen müssen und statt dessen einfach in den “Setzkasten” der Homöopathie greifen und mit wichtigtuender Geste “ex cathedra” die rituelle Heilung einfordern. Und wehe, der Patient folgt ihnen nicht …

Und wehe, Homöopath oder Patient oder beide kennen die Grenze nicht und fordern oder erwarten Heilung gleichermaßen bei ernsten Erkrankungen – so wie sie es bei harmlosen Erkrankungen subjektiv erlebt haben: Dann droht Gefahr für Gesundheit und Leben der Patienten.

Wir finden, es ist nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten, Patienten über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Homöopathie zu informieren. Wenn man Patienten bewusst eine pharmakologische Medikamentenwirkung vorenthält und sie im Unklaren lässt, dass es lediglich das “therapeutische Setting”, das “therapeutische Schauspiel” ist, das wirkt – und zwar nur als Ritus, der im Vergleich zu den Wirkungen vollwertiger medizinischer Therapien wesentlich schlechter ist -, entmündigt man seine Patienten. Die Rolle eines “Halbgotts in Weiß” mag vor 200 Jahren eine Idealvorstellung unter den damaligen Ärzten gewesen sein – heute ist die Medizin von diesem Rollenverständnis weiter entfernt als je zuvor. In der Homöopathie jedoch kommt dem Therapeuten nach wie vor die entscheidende Rolle des alleinigen Behandlungsführers zu, dessen Entscheidungen und dessen Autorität nicht hinterfragt werden dürfen.

Als Patient oder als Homöopath ist es einfach zu sagen: “Ich habe Heilung selbst erfahren”. Aber wie komplex sind doch die Vorgänge, die eine solche “Heilungserfahrung ohne Heilung” erzeugen. Und wie wichtig ist die Erkenntnis, dass “Heilungserfahrungen erzeugende Vorgänge” etwas grundsätzlich anderes sind als wirksame – mitunter durchaus sehr unangenehme – Therapien mit echter lebensverlängernder oder ausheilender Wirkung.


Autor: Dr. med. Wolfgang Vahle
Bildnachweis: Pixabay License


(1) Eine der bislang wenigen Studien, die unterschiedliche Effekte des homöopathischen Gesprächs und der Mittelgabe untersuchten, war die von S. Brein et al. : Homeopathy has clinical benefits in rheumatoid arthritis patients that are attributable to the consultation process but not the homeopathic remedy: a randomized controlled clinical trial. 
. 2011 Jun; 50(6): 1070–1082.
Published online 2010 Nov 8. doi: 10.1093/rheumatology/keq234

Der Titel enthält schon das Ergebnis: Die in der Tat erzielten  Effekte einer homöopathischen Behandlung sind dem Konsultationsprozess (dem homöopathischen “Setting”) zuzuschreiben und nicht dem homöopathischen Mittel.

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